Architekturbarometer 30mal10 – Interview mit Norbert Schachtner (HDR)
Auf Ihrer Webseite ist zu lesen, dass Sie „abgetretene Pfade“ verlassen. Was verstehen Sie unter „abgetretene Pfade“ und wohin zielt Ihr Weg?
Abgetretene Pfade ist vielleicht etwas scharf formuliert. Wir sehen unsere Kernkompetenz darin, zu versuchen, Jahre anhaltende generische Modelle in der Forschung und im Gesundheitswesen aufzubrechen. Weil wir glauben, dass gerade Forschung durch das lebt, was wir heute noch nicht kennen. Es ist das Urprinzip der Forschung, Dinge zu entdecken, die uns heute unbekannt sind, die uns aber wahrscheinlich für unser späteres
Leben nützlich sein können. Das führt auch dazu, dass häufig die Art und Weise, wie Forschungsergebnisse produziert werden, heute anders sind als vor zehn Jahren. Wenn Sie heute Labor- oder Forschungsgebäude betreten, sehen Sie immer weniger klassische Flurtypen, sondern immer mehr freier organisierte Arbeits-, Lernund Wissenswelten, die dazu führen, den Menschen untertags deutlich mehr Kommunikation zu ermöglichen.
Wir sind überzeugt, dass neue Arbeitswelten zum Schluss andere Ergebnisse produzieren. Deshalb ist es unsere Hoffnung, dass die Zurverfügungstellung anderer Räume durch uns Architekten eine andere Art der Arbeit und der Arbeitsorganisation bewirkt, die auch andere
und zwar bessere Ergebnisse hervorbringt. Das ist der Grund, warum wir bestehende Arbeitsorganisationen – oder nennen wir es einfach generische Modelle – immer wieder überdenken und überprüfen. Wir merken es natürlich auch an unseren eigenen Büros: würden wir uns wie eine Verwaltung organisieren und jeder in seinem eigenen Raum sitzen oder zu zweit in einem Raum den Tag verbringen, würde sich unser Erlebnishorizont sehr
stark einschränken. Und somit auch die Art und Weise, wie wir denken, wie wir handeln und wie wir unsere Produkte entwickeln. Arbeiten wir hingegen in größeren Raumeinheiten mit mehr Möglichkeiten, haben wir untertags ein ganz anderes Modell des Arbeitens.
Unsere Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben klar den Unterschied zwischen offen und frei kommunizierenden Teams gegenüber räumlich beengten gezeigt. Abgesehen davon, dass offenere und freie Architekturen auch einen anderen Typ Mensch anziehen werden. Und um das geht
es uns ja auch, dass wir mit unserem eigenen Arbeitsumfeld versuchen, die besten Mitarbeiter am Markt zu generieren. Und diese haben klare Vorstellungen, unter welchen Bedingungen und unter welchen räumlichen Gegebenheiten sie arbeiten wollen.
Der Forschungsbau der Zukunft ist also ein Gebäude, das ein Höchstmaß an Kommunikation ermöglichen muss, da durch Kommunikation u.a. Innovation entsteht. Welche wesentlichen Erfolgskriterien für den Bildungsbau der Zukunft würden Sie dem hinzufügen?
Der zweite Punkt ist sicherlich das Thema Flexibilität, ein inzwischen ziemlich abgedroschenes Wort. Wir wissen ja nicht, wie die Menschen in zehn Jahren arbeiten werden. Wenn wir heute Häuser bauen, die maßgeschneidert auf das heutige Arbeitsmodell passen, so entstehen leider immer noch sehr viele Raumprogramme, die das Abbild der gegenwärtigen Situation sind. Es ist aber doch wahrscheinlich, dass die Menschen in zehn Jahren in einem völlig anderen digitalen Umfeld, mit völlig anderen technischen Mitteln arbeiten, was viele Häuser von heute nicht mehr abbilden können.
Welche Häuser reißen wir heute ab? Doch diejenigen, die man den neuen Nutzungen nicht mehr anpassen, nicht in großzügige, freie, flexible Raumwelten umbauen kann, was auch vom ökologischen Standpunkt her alles andere als positiv ist. Ein Haus verbraucht ja zur Herstellung
ein unglaubliches Maß an Primärenergie, sei es über Beton, sei es über die Herstellung von Glas und natürlich auch edlen Materialien wie Aluminium. Es ist mehr als bedauerlich, dass wir unsere Häuser nur auf 30-35 Jahre denken und sie dann häufig wieder abreißen und damit der gesamte Primärenergieaufwand zum Schluss umsonst war. Somit ist Flexibilität ein ganz großer und wichtiger Punkt. Ein heute gebautes Raumgefüge muss immer wieder neu definiert werden können, ohne dass man gleich zur Betonsäge greifen muss. Also mit möglichst wenig bautechnischem und architektonischen Aufwand gilt es, neue Arbeits- und Denkwelten zu entwickeln, die für unsere Kinder möglicherweise auch noch in zwanzig Jahren maßgeschneidert und erfolgreich sein können.
Da sich unsere Arbeitswelten deutlich ändern werden, und das sehen wir ja doch fast an allen Stellen, sei es in der Produktion, der Forschung oder der Verwaltung, brauchen wir einen völlig flexiblen Gebäudetypus, der nur aus dem Kern zur Versorgung dieser Flächen besteht, aus einer Fassade und Deckenplatten. Vorbilder haben wir ja bereits mit den schönen Altbauten aus dem Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts, die wir heute immer und immer wieder umnutzen und umbauen können.
Was hat die Corona-Krise mit Architektur zu tun? Man denke an die Epidemien der Vergangenheit, die letztendlich immer Auswirkungen auf unsere Städte hatten und sie letztendlich auch verändert haben.
Ich denke, mit Architektur als solcher wahrscheinlich primär fast überhaupt nichts. Es wird möglicherweise Folgen für das wirtschaftliche zusammenleben der nächsten Jahre für uns geben. Vielleicht auch dadurch, dass wir jetzt zu einer Staatsverschuldung gezwungen werden, die wir in den nächsten Jahren wieder abbauen müssen oder sollten. Das könnte dazu führen, dass die öffentlichen Investitionen in vielen Bereichen reduziert
werden und damit manche nicht mehr ganz so notwendigen Bauprojekte wie Museen oder Freizeitbäder verschoben werden müssen, damit wir unsere sechzig Prozent Maximalverschuldung vom jährlichen Bruttosozialprodukt, also die Stabilitätsregeln der EU, wieder einhalten können. Es wird wahrscheinlich zwei bis drei Jahre dauern, vielleicht sogar länger. Ansonsten sehe ich auf dem sogenannten Bau-Markt für uns Architekten
auf das Erste keine konjunkturellen Einflüsse. Die Corona-Krise hat nur Dinge stärker ins Rampenlicht gezogen, die eigentlich schon da waren, aber man noch nicht so erkannt hatte. Ohne Corona wäre es zum Beispiel erst in einigen Jahren sichtbar geworden, dass wir unsere Arbeitswelten unbedingt flexibilisieren müssen und den Arbeitsort nicht mehr hundert Prozent im Büro sehen.
Google oder einige andere Silicon Valley Betriebe definieren das Wort Arbeitsort nicht mehr in ihren Verträgen, sondern ausschließlich das Ergebnis der Arbeit. Ob man sie von Zuhause, im Café, im Freibad, im Büro oder vielleicht gerade im Zug macht, ist die persönliche Entscheidung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Sekundär betrachtet wird durch die Pandemie wahrscheinlich eine Veränderung der Umwelt eintreten. Mit allergrößter Sicherheit werden sich unsere Städte danach richten müssen, um wieder erfolgreich zu sein. Die Städte sind derzeit ja gegenüber dem flachen Land durch die Dichte und durch die oftmals sehr gedrängt miteinander lebenden Menschen, im Nachteil. Sie müssen sich sicherlich ein Modell einfallen lassen, wie sie im
Vergleich zum Leben auf dem Land wieder konkurrenzfähig werden. Das impliziert die Verfügungstellung von mehr öffentlichen Räumen wie Parks und mehr Möglichkeiten, sich außerhalb der Wohnung zu treffen. Man konnte es jetzt seit Corona beobachten, es wurden viele öffentliche Plätze endlich so genutzt, wie sie eigentlich zu nutzen sind, nämlich als Versammlungs- und Kommunikationsflächen von Menschen und nicht als
Parkplätze. Es ist allerdings momentan noch zu früh, über die Folgen von Corona zu sprechen, noch befinden wir uns mittendrin in dieser Krise und damit noch längst nicht am Ende, an dem wir einen Schlussstrich ziehen könnten, um zu überlegen, was wir falsch gemacht haben und was wir korrigieren müssen.
Das Einzige, was wir momentan wissen ist, dass sich unsere Wohnungen und Arbeitswelten verändern werden. Schließlich müssen wir davon ausgehen, dass dieses Covid-19 Thema kein Einzelfall bleiben wird. Das menschliche Leben und die Stadt sind sowieso in einem ständigen Transformationsprozess, kein Zustand bleibt immer so, wie er gerade ist. Städte haben sich immer wieder an neue Produktionsbedingungen und auch an die Umwelt angepasst, um weiter erfolgreich zu sein. Die Stadt ist ja ein unglaublich erfolgreiches Sozialisationsmodell, und das ist ja auch der Grund, warum immer Menschen in die Städte ziehen. Jetzt müssen neue Impulse kommen, damit die Städte ihre Möglichkeiten zur Kommunikation, sozialem Austausch und Lebensqualität wieder zu ihrem Vorteil auszubauen können.
Lesen Sie das vollständige Interview mit Norbert Schachtner auf der Seite des Architekturbarometer 30mal10 – Grohe Digital Talks.
Über Norbert Schachtner
studierte Architektur an der TU Mu?nchen und schloss 1990 das Studium mit dem Diplom ab. In seiner langjährigen Tätigkeit fu?r eines der fu?hrenden europäischen Architekturbu?ros baute Norbert Schachtner den Geschäftsbereich „Life Science Buildings“ auf und leitete ihn erfolgreich. Seit 2018 ist Norbert Schachtner Leiter des Bereichs Bildung, Wissenschaft und Forschung und Teil des internationalen Wissensnetzwerks von HDR. Zu seinem Portfolio zählen vielfältige Projekte von speziellen Laboren bis hin zu komplexen Biosafety-Level-4 Einrichtungen. (www.hdrinc.com)