“Sleeping Beauty” oder die Rettung eines Jahrhunderbauwerks

„Sleeping Beauty“

oder die Rettung eines Jahrhundertbauwerks

Als die Multihalle von Frei Otto und Architekt Carlfried Mutschler 1975 im Rahmen der Bundesgartenshow (BUGA) eröffnet wurde, schrieb Manfred Sack in der „ZEIT“, dass es ein ‚Augenabenteuer‘ sei, eben ‚das Wunder von Mannheim’. Tatsächlich war der Besucher und die Fachwelt gleichermaßen beeindruckt von der bis heute größten, freitragenden Holzgitterschalenkonstruktion in der Mannheimer Innenstadt.

Die Berechnung der Flächen fand damals erstmalig über einen Computer statt und alles wurde zur Sicherheit auch noch einmal mit der Hand berechnet. Darüber hinaus testete Frei Otto, der spätestens durch das drei Jahre zuvor entwickelte Stahlnetzdach der Münchner Olympiahalle als Erfinder der leichten Flächentragwerke galt, anhand eines Modells die Lastensicherheit. Dazu hängte er 205 mit Wasser gefüllte Mülltonnen an eine Gitterschalenkonstruktion. Diese wich lediglich einen Zentimeter von der errechneten Deformation ab. Es konnte also tatsächlich gebaut werden. Frei Ottos Leitsatz: „Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen…“ zahlte sich bei seiner Arbeit immer aus. Denn die Halle machte schnell Furore und wurde rasch international und besonders im amerikanischen Raum sehr gut besprochen.

Dem Gebäude jedoch half es wenig. Denn der Stadtmagnet, der eine Fläche von 7.400 Quadratmeter überwölbte, kam in die Jahre. Die Holzlattenkonstruktion mit einer maximalen Querspannweite von 60 m und einer Längsspannweite von bis zu 85 m nebst einem Kuppelhöchstpunkt von 20 Metern war von der Feuchtigkeit angegriffen und die PVC-Haut der Konstruktion, also die Kunststoffbahn, mit der die Lattenkonstruktion 36 Jahre eingedeckt war, undicht geworden. Schlagregen und Tauwasser hatten die Randträger der Halle so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass die Baupolizei das Bauwerk sperren ließ. Die Halle konnte nur noch mit Notabstützungen sichergestellt werden. Jahrelang kümmerte man sich nicht mehr darum, ganze sechs Jahre war die Halle sogar unzugänglich.

Im Juni 2016 wurden die Sanierungskosten auf 11,6 Millionen Euro geschätzt und so beschloss der Gemeinderat, die Halle zum Abriss freizugeben. Die Sanierung des Bauwerks, das bereits 1998 unter Denkmalschutz gestellt worden war, sei wegen der hohen Kosten und weiterer Risiken im Bauverlauf weder trag- noch zumutbar. Aber – wohlwissend, dass die Halle und vor allem sein Architekt Frei Otto ein Name wie ein Donnerhall in der Architektenschaft ist – ließ der Gemeinderat noch eine Möglichkeit offen. Gelänge es, bis Ende 2017 Gelder über externe Firmen oder Mäzene zu rekrutieren und die Betriebskosten auf einen finanziell sicheren Boden zu stellen, so könne man noch einmal über eine Sanierung nachdenken.

Der internationale Aufschrei in der Kreativ-, Architekten- und Ingenieurswelt war entsprechend groß: „Der Beschluss des Mannheimer Gemeinderats 2016, die Multihalle gegebenenfalls abzureißen, führte zu einer großen Protestwelle. Vor allem in der internationalen Architektenszene. Und vor dem Hintergrund des Pritzker-Preises, den Frei Otto noch 2015 verliehen bekommen hatte. Diese Protestwelle hatte sich sehr schnell  in eine große Welle der Unterstützung gewandelt, die bis heute vorhält. Von ganz vielen unterschiedlichen Institutionen, vor allem von Architekt*innen, Universitäten, aber auch von Kulturschaffenden“, erläutert Tatjana Dürr, Referentin für Baukultur der Stadt Mannheim. Unter dieser internationalen Öffentlichkeit fanden sich rasch Interessenten, die an der Hallenrettung mitwirken sollten. „Ich glaube es ist wichtig, dass wir dieses Experimentierfeld, wie es Frei Otto ja auch angedacht hatte, erhalten und uns hier Gedanken machen über die Stadt der Zukunft,“ erklärte Dr. Matthias Rauch, Mitglied der kulturellen Stadtentwicklung eines Start-Ups in Mannheim, der als Netzwerker, Koordinator und interdisziplinärer Schnittstellenarbeiter in Mannheim dient und dort Projekte insbesonders gemeinsam mit Akteur*innen der Stadt entwickelt.

Bald war auch ein Sponsor gefunden: Prof. Philip Kurz sah als Geschäftsführer seiner ‚Wüstenrot Stiftung‘ eine sehr dankbare Aufgabe in der Rettung oder auch im Erwecken der schlafenden Schönheit. Der erste Beitrag bestand in der planungsbegleitenden, probeweisen Umsetzung der planerischen Sanierungs-, Verstärkungs- und Reparaturideen 1:1 am Objekt. Dadurch wurden – ganz im Sinne von Frei Otto –  auf experimentelle Weise Erkenntnisse gewonnen, die zu Planungs-, Kosten- und Terminsicherheit führten, bevor die Maßnahmen zur Ausführung ausgeschrieben wurden.

In einem ersten Schritt wurden Dellen und Beulen mit 100 Schwerlastsprießen wieder in die ursprüngliche Geometrie gedrückt und die Bewegungen der Konstruktion mit Lasern abgebildet und überwacht. In einem zweiten Schritt die Verstärkung der Holzkonstruktion und ihrer Anschluss- und Befestigungsdetails einschließlich der Membran getestet. Danach folgten der probeweise Austausch eines Holzrandträgers und die Instandsetzung einer Stahlstütze: „So wie die Multihalle ursprünglich experimentell gebaut wurde, so muss die Instandsetzung experimentell ablaufen“, fand Prof. Kurz und sein Prüfingenieur für Bautechnik, Axel Bisswurm, ergänzt: „Es gibt auf der ganzen Welt kein vergleichbares Bauwerk. Diese Multihalle ist wirklich einzigartig. Und deshalb gibt es auch niemanden, der Erfahrung mit der Instandsetzung hat.“

Neben der fachlichen und handwerklichen Kompetenz kamen andere Unterstützer dazu. So der  Architekturtheoretiker Prof. Dr. Georg Vrachliotis, der rückschauend stolz auf den Erfolg der Rettungsaktionen ist: „Seit 2016 die Idee aufkam, die Multihalle abzureißen, konnten wir durch eine ganze Reihe von Aktionen und Ausstellungen Kampagnen erschaffen, um das Bauwerk zu erhalten und wiederzubeleben. Zu nennen sind etwa die Ausstellung auf der Architekturbiennale in Venedig „Sleeping Beauty“. Der Name ist gewissermaßen auch heute noch Programm: Es geht um das Wachküssen einer Jahrhunderthalle, eines Jahrhundertbauwerks hier in Mannheim.“

Bereits 2017 fanden dann die ersten internationalen Workshops mit der Entwicklung von Nutzungskonzepten statt. Einige sehen auch heute noch das große Potential dieser einzigartigen Bauweise und vergleichen die Möglichkeit, mit der Multihalle Werbung für die Stadt zu machen, mit der Werbewirkung des Eifelturms in Paris. Prof. Dr. Georg Vrachliotis weiß die Vorzüge zusammenfassend zu benennen: „Die Multihalle hat uns das räumliche Denken wieder näher gebracht. Sie hat uns gezeigt, dass Innovation nicht unbedingt eine Frage der Technik ist. Vielmehr geht es um soziale Innovation im gesellschaftlichen Sinne.“

Um diesen Mehrwert kämpfen nun Start-Ups, mittelständische Unternehmen oder auch Großkonzerne. Denn Dr. Matthias Rauch weiß, dass „Kultur und Kreativität (…) essentiell wichtig für Stadtentwicklungsprozesse sind. Kultur ist auch ein Innovationstreiber für andere Branchen. Es bringt People aus unterschiedlichen Branchen, aus unterschiedlichen Schichten, Kulturen und Sprachen zusammen, kann verbindend sein, kann neue Gemeinschaften schaffen… Wir haben beispielsweise Kunst- und Kulturprojekte für Kinder und Jugendliche gemacht, wir haben eigens komponierte Musik in der Halle aufgeführt, Symposien, wir haben Foren gehabt wie das erste Placemaking-Forum, wo wir uns Gedanken gemacht haben, wie wir das Projekt in Mannheim weiterentwickeln. Und wir hatten eine Summerschool mit Architektur- und Designstudierenden aus der ganzen Welt, wo wir mobile Architekturen aus Holz gebaut haben. Diese wollen wir jetzt auch im öffentlichen Raum zum Einsatz bringen.“

Mittlerweile weiß auch die Stadt ihr Kleinod zu schätzen: „Ich glaube die Multihalle mit ihrer Ausstrahlung signalisiert von Vorneherein Offenheit. Wir haben schon beim Prozess der Wiederaneignung der Halle gespürt, welches Potential sie für uns hat. Die Multihalle war ein Symbol für die Zukunft und sie ist es heute immer noch und das ist faszinierend. Es ist ein ikonographischer Bau, der damit automatisch Identität erzeugt. Viele Mannheimer und Mannheimerinnen orientieren sich an diesem Bau und teilen Erinnerungen“, erklärt Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister von Mannheim.

Die große Herausforderung für die Städte der Gegenwart ist es, trotz der Vielfalt der Menschen und der Gesellschaft, Räume der Begegnung zu schaffen und in diesem Fall zu erhalten. Kontakt mit anderen herstellen, sich austauschen – auch das ist ein Stück städtischer Kultur.

In den folgenden drei Jahren werden weitere Nutzungskonzepte gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern für die Halle erarbeitet. Es wird ein Gemeinschaftsprojekt – so wie die Sagrada Familia in Barcelona. Und es gilt, eine eingeschlafene Schönheit wieder zu erwecken und die Neugier des einen oder anderen Unterstützers zu erwirken. Mit dieser gemeinsamen Kraft wird die Bundesgartenschau im kommenden Jahr 47 Jahre nach der Einweihung der Multihalle sicherlich ein zweites Mal reüssieren.

 

 

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