Architekturbarometer 30mal10 – Interview mit Ursula Fuss (Ursula Fuss Architekturbüro)
Besteht die Hoffnung, dass nach Corona in der Architektur wieder mehr die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt werden?
Der Architektur hat in der letzten Zeit die Rücksicht auf die Wahrnehmung des Einzelnen gefehlt. Effizienz und Kostenkontrolle standen im Fokus. Ich hoffe, dass die Architektur menschlicher wird und dass wir sie neu überdenken müssen. Wir werden ganz sicher Veränderungen in unseren Wohnsituationen erleben. Das Homeoffice mit dem Büro am Küchentisch kann auf Dauer keine befriedigende Lösung sein.
Es wird eine Mischung zwischen Präsenz in der Firma und dem Homeoffice geben. Denn der Mensch ist ein Herdentier, er möchte sich treffen, er braucht soziale Kontakte, um überhaupt seine Selbstfindung oder auch seine Meinungsbildung zu entwickeln. Deshalb benötigen wir auch weiterhin Büroflächen, müssen nur mehr Platz anbieten, um zukünftige Pandemien in den Griff zu bekommen, geschweige denn, sie zu vermeiden.
In anderen Bautypologien wie zum Beispiel dem Wohnen müssen wir von Seiten der Architektur intensiv über die Erschließung nachdenken. Technische Systeme wie Aufzüge können die zukünftigen Anforderungen nicht umfassend lösen. Es muss darüber nachgedacht werden, wie Menschen eine Ebene erreichen, welche sie gemeinsam nutzen wollen. Die Erschließung wird also ein ganz wichtiger Aspekt in der Architektur und kann einen Wandel oder Neukonzeption der Funktionsbereiche initiieren.
Sie sind schwerpunktmäßig in der Bautypologie Hotel tätig. Müssen wir das Hotel neu denken? In welche Richtung wird es gehen?
Wir haben in der Hotellerie drei unterschiedliche Strömungen. Zum einen gibt es die bewährten großen Hotelmarken, die klare Anforderungen in ihren Standards haben. Die Zimmerausstattungen sind identisch, unabhängig, ob man sich in Paris, London oder New York aufhält. Dann haben wir die Hotelketten oder Betreiber, die etwas Neues gewagt haben. Das Hotel war immer der Versuchsort bzw. das Experiment, um etwas anderes kennenzulernen. Deswegen gehen wir ja letztendlich auf Reisen, ob privat oder geschäftlich. Das konnte man früher sehr schön an den Grandhotels erkennen, die stets sehr pompös waren und dem Gast das Gefühl gaben, ein König oder zumindest etwas Besonderes zu sein.
Dann kamen vor einigen Jahren Ideenfinder hinzu, wie zum Beispiel das 25Hours, die das Gewohnte völlig auf den Kopf stellten. Damit trafen sie damals bis heute einen Nerv. Alle durften leger sein, nach dem Motto „come as you are.“ Diese Ausrichtung setzte eine unglaubliche Bewegung in der Hotelbranche in Gang. Man schaue nur, wer alles durch die 25Hours-Konzeption beeinflusst wurde. Die Hotellerie verlangt von Seiten der Architektur eine sehr wichtige Aufgabe, nämlich Ideen anzubieten, die der Gast auf Zeit ausprobieren kann. Wir werden auch zukünftig flexiblere Hotelkonzepte entwickeln müssen, welche die gesellschaftlichen Lebensweisen reflektieren und die viel mehr Kommunikations- und Gemeinschaftsbereiche anbieten müssen, in denen man sich zufällig treffen kann und die eine Corona bedingte Distanz berücksichtigen.
Was kritisieren Sie an der deutschen Hotellerie?
Meine Erfahrung mit der deutschen Hotellerie ist, dass sie bisher stets genau wusste, was sie braucht. Ich habe durch das Thema Barrierefreiheit einen ganz neuen Aspekt in diese Branche eingebracht, den es vorher so nicht gab. Mein Bestreben ist immer, mit meinen Auftraggebern gemeinsam Konzepte zu entwickeln, von denen sie nachhaltig überzeugt sind. Über meine Ideen in Hinsicht der Barrierefreiheit bekomme ich auch oft Zugang zu anderen Problemstellungen. Und damit sind wir jetzt wieder an der Stelle von vorhin, dass man in einem Hotel Dinge anbieten und ausprobieren sollte, die es vorher noch nicht gab. Denn erst, wenn man sie real getestet hat, kann man sie auch letztendlich begreifen.
In Bezug auf die Barrierefreiheit haben wir zum Glück eine Gesetzgebung in Deutschland, die mit durchschnittlich 10-20 Prozent der Beherbergungsräume/Betten (je nach Bundesland) die Anzahl der barrierefreien Zimmer vorschreibt. Noch immer sind die Vorurteile präsent, dass barrierefreie Zimmer unattraktiv und hässlich sind. Meine Konzepte belegen, dass dem überhaupt nicht so ist. Im Gegenteil, die Zimmer werden auch von nicht behinderten Menschen sehr gerne gebucht. In der PIERDREI in Hamburg habe ich beispielsweise im Bad in der Dusche zwei Duschbänke gegenübergestellt und in der Mitte die Fläche zum Duschen im Stehen geplant. Diese Gestaltung bewirkt ein ganz neues Duscherlebnis, wenn man beispielsweise zu zweit jeweils auf einer Bank sitzt und sich gemeinsam duschen und entspannen kann. Das hat schon viele Gäste beeindruckt und positiv überrascht.
Der deutschen Hotellerie fehlt meiner Meinung nach die Experimentierfreudigkeit. Viele Betreiber meinen, nichts ändern zu müssen, weil sie scheinbar wissen, was ihre Klientel erwartet. Sie trauen dem Gast nicht zu, mit einer neuen Situation oder einem neuen Erlebnis umzugehen. Das ist und bleibt ein großer Fehler, denn der Gast ist viel neugieriger, als wir denken. Das Interessante ist ja auch, dass alles, was im Hotel jemals neu angeboten wurde, meistens früher oder später im Wohnungsbau landete. Schauen wir uns beispielsweise die bodengleichen Duschen an. Das oberste Gebot bleibt natürlich, dass der Gast sich wohlfühlt. Er fühlt sich dann wohl, wenn er sich sicher fühlt. Also irgendwelche Experimente, die den Gast verunsichern, sind nicht gefragt.
Abgesehen vom Individualraum Zimmer haben wir natürlich die öffentlichen Räume wie das Schwimmbad, Massagebereiche, Restaurants und die Gastronomie im Allgemeinen. Auch in diesen Flächen muss man die Wahrnehmung des Einzelnen analysieren. Ich erinnere mich an eine Diskussion zum Thema “Wellbeing im Hotel” in London. Alle sprachen über Gerüche, Musik, Öle und das Essensangebot. Ich habe damals betont, dass es hauptsächlich darum geht, wie ich mich als Gast wahrgenommen fühle. Wenn der Gast seinen Weg suchen und dreißigmal fragen muss, wo es zu der Massageabteilung geht, dann fühlt er sich verunsichert und schon nicht mehr wohl. Oder eine zu steile Rampe bedeutet, dass ich mich als Rollstuhlfahrerin abmühen muss und mich unwohl fühle, weil andere es als eine schwere und hilfsbedürftige Lebensweise wahrnehmen. Obwohl dafür nur eine falsch geplante Erschließung (Rampe) verantwortlich ist. Dieser Aspekt war für viele neu und führte seitens der Teilnehmer zu neugierigen Nachfragen. Grundsätzlich steht die deutsche Hotellerie im internationalen Vergleich gut da, es gibt innovative Ansätze, die auf sich aufmerksam gemacht haben. Man denke an den Ansatz der Designhotels von Claus Sendlinger oder die vorher bereits erwähnten 25 hours Hotels.
Lesen Sie das vollständige Interview mit Ursula Fuss auf der Seite des Architekturbarometer 30mal10 – Grohe Digital Talks.
Über Ursula Fuss
Ursula Fuss studierte Architektur an der Fachhochschule Wiesbaden und an der Hochschule der bildenden Künste an der Städelschule in Frankfurt am Main beim renommierten Architekten Peter Cook. Nach Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros gründete sie ihr eigenes Büro in Frankfurt mit dem Schwerpunkt barrierefreies Bauen, ein Thema, dass ihr als Rollstuhlnutzerin naheliegt. Sie entwickelt barrierefreie Gesamtkonzepte mit optimierten und architektonischen Lösungen für unterschiedliche Planungsaufgeben. Neben ihrer selbstständigen Arbeit engagiert sich Ursula Fuss in der Hochschulausbildung: Unter anderem unterrichtete sie von 2009 bis 2014 Barrierefreies Bauen an der TU Darmstadt. Seit 2010 berät sie zahlreiche Hotelmarken, Investoren, Beratungsgesellschaften und weitere zum Thema Barrierefreiheit und Inklusion. (www.con-fuss.de)