Leitartikel “Strukturen des sozialen Zusammenlebens”
Seit Beginn der menschlichen Zivilisation sind unterschiedliche Formen des sozialen Zusammenlebens bekannt. Sie entwickelten sich in nomadischen und sesshaften Lebensformen kleinerer und größerer Gruppen mit mehr oder weniger Sensibilität für die jeweilige natürliche Umwelt in unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisation auf allen Kontinenten der Erde. Das Spektrum sozialer Konstellationen reicht von mobilen oder stationären Stammesgesellschaften über dörfliche und städtische Siedlungsformen bis hin zu Megacities, deren erste Ausprägungen bereits in der Antike im Vorderen Orient entstanden sind. In all diesen unterschiedlichen sozialen Formationen suchten Menschen Schutz vor Nässe, Kälte und anderen Naturgefahren in Höhlen, Hütten oder gebautem Wohnraum. Sie arbeiteten zunächst als Jäger und Sammler, später als Bauern in der Landwirtschaft, im Handwerk sowie in der Industrie und in Dienstleistungsberufen. Letztere entwickelten sich bereits in antiken Städten infolge eines regen lokalen, regionalen und länderübergreifenden Handelsverkehrs. Die Vielfalt historischer Spuren einer mehr oder weniger friedlichen sozialen Koexistenz manifestieren sich in Landschaftsräumen, Bauten, technischen Artefakten, Formen des Wirtschaftens sowie in alltäglichen Wohnkulturen, Ernährungsweisen, Mobilitäts-, Kommunikations- und Lernpraktiken. Sie prägten gemeinsam den jeweiligen Umgang mit planetaren Ressourcen sowie sprachliche und künstlerische Ausdrucksformen. Wir lesen solche historischen Spuren sozialer Verhältnisse in gezeichneten, gemalten und geschriebenen Dokumenten oder in Sammlungen von Artefakten und modellhaften Rekonstruktionen, die Bibliotheken und Museen für nachfolgende Generationen vorhalten. Die Konfrontation mit verschiedenen Variationen des sozialen Mit- oder Gegeneinanders von Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten wirft die Frage auf, wodurch sie beeinflusst werden: Ist es das menschliche Verhalten und Handeln in jeweils bestimmten gesellschaftlichen Figurationen und/oder sind es materielle und ästhetisch-symbolische Umweltbedingungen und/oder die von Menschen geschaffenen Organisationen, Institutionen und normativen Regulationen, die Aufschluss über Strukturen des sozialen Zusammenlebens geben können?
Konträre Entwicklungen
Gegenwärtig betrachten viele Zeitgenossen den sozialen Zusammenhalt in Deutschland und anderswo aus verschiedenen Gründen immer wieder als gefährdet. Wie hängt das mit dem sozialen Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zusammen? Welche Dynamiken prägen in welchen gesellschaftlichen Kontexten soziale Konstellationen? Westliche Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften sind infolge besserer medizinischer Versorgung, vergleichsweise geringerer körperlicher Belastungen im Erwerbsleben und höherer Einkommen durch eine Zunahme älterer Bevölkerungsgruppen sowie ausgeprägtere Individualisierungstendenzen gekennzeichnet. In Ländern des globalen Südens dominieren demgegenüber jüngere Menschen, die trotz eingeschränkter Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, unsicherer Erwerbsarbeit und gesundheitlichen Belastungen Verantwortung für größere Familienverbünde übernehmen müssen. Diese konträren demographischen und sozioökonomischen Entwicklungen beeinflussen in Verbindung mit räumlich unterschiedlich wirkenden Folgen des Klimawandels oder Kriegsereignissen auch das Wanderungsverhalten vor allem jüngerer Bevölkerungsgruppen. So entstehen weltweit sehr verschiedene soziale Konstellationen: Im globalen Süden verbleiben häufig Menschen, die andernorts – aufgrund von fehlender Bildung, eingeschränkten finanziellen Ressourcen und Kontakten sowie Mobilitätsbarrieren – keine Chancen auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation wahrnehmen können. Im globalen Norden sammeln sich hingegen durch angeworbene Studierende und Arbeitskräfte, Fluchtbewegungen und transnationale Migration zunehmend Menschen verschiedener Altersgruppen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus, Arbeitserfahrungen und Sprachkompetenzen, in der Hoffnung, von den sichereren Lebensgrundlagen in den Zielländern profitieren und in den Herkunftsländern verbliebene Angehörige unterstützen zu können. Einblicke in die Zuwanderungsgeschichte der Länder des globalen Nordens verweisen auf politische Pfadabhängigkeiten: Ehemalige koloniale Beziehungen hinterlassen in den Zuwanderungsbewegungen ebenfalls ihre Spuren wie vergangene und aktuelle Kriegsereignisse und/oder wirtschaftlich und politisch motivierte Regulationen der Zuwanderung. Daraus erklärt sich die Varianz migrationsbedingter sozialer Konstellationen in Zuwanderungsländern, die intern zusätzlich durch Wirtschaftsstrukturen, Wohnungsmärkte und politisch-administrative Steuerungsprozesse von Wanderungsbewegungen beeinflusst wird. Auch die deutsche Zuwanderungsgeschichte ist durch sehr unterschiedliche Migrationsbewegungen geprägt: In Ostdeutschland lebten beispielsweise bis zum Jahr 1989 nur sehr wenige Menschen mit einer ausländischen Herkunft; sie kamen als sogenannte Vertragsarbeiter*innen vorwiegend aus afrikanischen und asiatischen Ländern, mit denen die DDR Wirtschaftsbeziehungen unterhielt. In Bayern wurden hingegen in den 1950er-Jahren gezielt Vertriebene aus osteuropäischen Ländern wegen ihrer hohen Qualifikationen für den Aufbau der bayerischen Industrie angeworben und in mehreren Städten bewusst angesiedelt. In den westdeutschen Industrieregionen konzentrierte sich die in den 1960er-Jahren einsetzende und zunächst temporär konzipierte Gastarbeiteranwerbung auf europäische Nachbarländer. Viele dieser ‚Gäste‘ sind jedoch in Deutschland geblieben und haben hier mit den nachgezogenen Familienangehörigen zu einem multikulturellen sozialen Kosmos von Städten und Quartieren beigetragen. An international erfolgreichen deutschen Wirtschaftsstandorten sammeln sich inzwischen auch viele hochqualifizierte Beschäftigte aus Drittstaaten, die als Fachkräfte dringend gebraucht werden. In den ländlichen Regionen Westdeutschlands finden sich bis heute Spuren von Zwangsarbeiter*innen aus der Zeit des Nationalsozialismus und neuere Phänomene temporärer Saisonarbeit in der Landwirtschaft sowie im Fleischgewerbe. Die Kriegsereignisse im ehemaligen Jugoslawien
sowie in Afghanistan, Syrien und der Ukraine sorgen bis heute – neben anhaltenden wirtschaftlich, klimatisch und politisch bedingten Lebensrisiken in Asien, Afrika und Lateinamerika – für eine verstärkte Fluchtmigration, die an den unterschiedlichen Ankunftsorten zu wachsender sozialer Vielfalt beiträgt. Wie leben all diese unterschiedlichen Menschen in Städten und Gemeinden und welche Strukturen des sozialen Mit- und Gegeneinanders bilden sich aufgrund welcher Rahmenbedingungen heraus?
Heterogenität
Weder die Gruppe der Zuwanderer noch die schon immer in Deutschland ansässige Bevölkerung ist sozial homogen. Zuwanderer und Einheimische unterscheiden sich nach sozioökonomischem Status, milieuprägenden Lebensstilen sowie kulturellen und politischen Orientierungen. Bildungsniveaus und Einkommensunterschiede auf dem deutschen Arbeitsmarkt, das breit gefächerte Spektrum an Wohnkosten, Wohnqualitäten und infrastruktureller Ausstattung sowie unterschiedliche naturräumliche und soziokulturelle Freizeitmöglichkeiten verteilen Menschen zudem räumlich auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Soziales Zusammenleben entwickelt sich zunächst lokal in privaten Wohnräumen, Nachbarschaften und im quartierlichen Wohnumfeld. An diesen Orten alltäglicher sozialer Praxis begegnen sich Menschen jeglichen Geschlechts und Alters, die im Verlauf ihrer Biographie in kleineren und größeren Haushalten je nach ihren sozialökonomischen Ressourcen und Wertorientierungen spezifische Lebensstile entwickeln. Je ähnlicher diese alltäglichen Lebensstile ausfallen, umso eher treten Menschen in Beziehung zueinander. Je mehr sich Lebensstile unterscheiden, umso vorsichtiger fällt die Kontaktaufnahme im näheren Lebensumfeld aus. In beiden Fällen stellt sich erst nach einer gewissen Zeit des sozialen Zusammenlebens heraus, ob sich dieses entweder produktiv und gegenseitig bereichernd oder konflikthaft entwickelt. Vorliegende Studien zu haushaltsinternen Beziehungen, zu Nachbarschaften und zur Quartiersentwicklung belegen immer wieder, dass weder kleinräumige soziale Homogenität noch entsprechende Heterogenität eine erwünschte Qualität sozialen Zusammenlebens garantieren. Einige Menschen bevorzugen zwar homogene Sozialstrukturen, stellen in solchen dann aber doch fest, dass nicht alle Aspekte vorhandener Lebensstile zusammenpassen. Andere empfinden homogene Sozialstrukturen eher als langweilig; sie schätzen bei gegebenen Distanzierungsmöglichkeiten das Anregungspotential sowie mögliche Komplementaritäten unterschiedlicher Alltagspraktiken und nutzen diese – Konflikte als Chancen billigend in Kauf nehmend – für eine Erweiterung ihres Erfahrungs- und Denkhorizonts. Auf der Ebene des gesamt Gemeinwesens zeigt sich die Vielfalt sozialer Konstellationen im öffentlichen Raum auf Straßen und Plätzen, in Parks und Grünanlagen, in Räumen für Bildung, Spiel und Sport sowie in öffentlichen Verkehrsmitteln. In diesen Räumen lassen sich Praktiken der Distinktion in sozialen Kreisen gut beobachten: Wer setzt sich neben wen in öffentlichen Verkehrsmitteln? Wer weicht wem auf der Straße oder auf Gehwegen aus? Wie mischen oder trennen sich soziale Gruppierungen in der Gastronomie, in Kultureinrichtungen, in Bildungsstätten oder Freiräumen? Die Mehrheit der Bevölkerung artikuliert zwar – verstärkt nach den pandemiebedingten Isolationserfahrungen – immer wieder den Wunsch nach Gemeinschaft. Gemeint ist damit in der Regel aber auf nachbarschaftlicher, quartierlicher oder Gemeindeebene eher die Gemeinschaft homogener sozialer Kreise, selbst wenn Vielfalt auf gastronomischer, kultureller und touristischer Ebene geschätzt wird und Erfahrungen zeigen, dass auch ähnliche Lebensstille konfliktanfällig sind. Soziale Heterogenität erfordert auf kleinräumigen Maßstabsebenen von Wohnungen, Gebäuden und Quartieren stets Bereitschaft zur Aushandlung von Regeln des Miteinanders, sobald einzelne Akteure oder ganze soziale Gruppierungen ihre Machtressourcen einsetzen, um eigene Interessen egoistisch durchzusetzen oder gar andere generell auszuschließen.
Interessen oder Orientierung als verbindendes Element
Gemeinschaften, in denen sich die Vielfalt der Bevölkerung abbildet, entstehen am ehesten bei größeren Sportveranstaltungen oder politischen Manifestationen. Verbindend sind dabei über differente Lebensstile hinweg das Interesse an einer Sportart oder bestimmte politische Orientierungen. Die zeitliche Begrenzung solcher Praktiken in heterogenen sozialen Kreisen ermöglicht
allen Beteiligten, sich nach Ende des Ereignisses in ihre jeweiligen Lebenswelten zurückzuziehen. Konflikte entstehen in solchen heterogenen sozialen Konstellationen während der Ereignisse, wenn die räumliche Anordnung verschiedener Gruppen nicht eingehalten wird, oder nach Abschluss eines Events, wenn Gruppierungen mit unterschiedlichen Auffassungen zum gemeinsam erlebten Geschehen im öffentlichen Raum aufeinandertreffen und ihre Differenzen mehr oder weniger friedlich austragen.
Kontaktloses Nebeneinander schürt Vorurteile
Siedlungsstrukturen, in denen viele verschiedene Menschen leben und sich im Alltag begegnen, tragen dazu bei, soziales Zusammenleben unter Respekt und Achtung für Differenz zu erlernen und entstehende Konflikte gewaltfrei in demokratischen Praktiken des Austausches und der Verständigung zu kanalisieren. Je weniger Gelegenheiten politische, wirtschaftliche, bauliche, infrastrukturelle und naturräumliche Strukturen zur Begegnung und Auseinandersetzung mit sozialer Andersartigkeit bieten, umso mehr entwickelt sich ein kontaktloses Nebeneinander innerhalb von Haushalten, in Freundeskreisen und Nachbarschaften, zwischen Regionen sowie Nationalstaaten. In einem solchen sozialen Klima gedeihen Vorurteile, Missverständnisse und egoistische Machtphantasien, die Konflikte fördern oder zu deren Eskalation beitragen können. Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sollten in allen ressortspezifischen und ressortübergreifenden Handlungsfeldern mit Sensibilität für deren Auswirkungen auf das lokale, regionale, nationale und globale soziale Zusammenleben gestaltet werden. Die in Deutschland und anderswo vielfach misslungene gesellschaftliche Eingliederung von Migrantinnen und Migranten verweist auf diese dringliche Herausforderung ebenso wie die Fluchtzuwanderung seit den 1990er-Jahren und das sich abzeichnende soziale Spaltungspotenzial der aktuellen Energiekrise.
Über die Autorin
Ingrid Breckner ist Erziehungswissenschaftlerin und promovierte Diplomsoziologin. Von 1995 bis 2021 lehrte und forschte sie als Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie tätig zunächst bis 2005 an der TU Hamburg und anschließend an der neu gegründeten HafenCity Universität Hamburg. Neben stadtsoziologischen und methodologischen Lehrschwerpunkten in Stadtplanung und Urban Design konzentriert sich ihre Forschung auf soziale Stadtentwicklung, Wohnen, Migration, (Sub-)Urbanisierung, Unsicherheit und regionale Esskultur.