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Stipendiaten-Blog: Juliane Glaser “Das Hinterzimmer”

Interior Scholarship – das AIT-Stipendium der Sto-Stiftung

Juliane Glaser – das Hinterzimmer

Problemstellung. Wir leben heute in einer Wissensgesellschaft, in der das Wissen immer mehr an Wert gewinnt.  Wir können und müssen viel wissen, wir aktualisieren fortlaufend unser Wissen, doch haben stets das subjektive Gefühl, zu wenig zu wissen. Diese allgegenwärtige Verfügbarkeit an Information, in Kombination mit der sozialen Isolation in unserer anonymer werdenden Gesellschaft, führt häufig dazu, dass wir am Ende ratloser dastehen als zuvor. Obwohl keine Generation so viel Wissen, Zugänge und Mittel zur Verfügung hatte, wie die unsere, fühlen wir uns paralysiert im Angesicht der komplexen Probleme, die unsere Gesellschaft hervorbringt. Anstatt uns gemeinsam den Herausforderungen zu stellen, nehmen wir passiv eine beobachtende Perspektive ein und warten ab, was um uns herum passiert. Wir distanzieren uns von den Problemen, welche uns meist indirekt oder erst nach einem großen Zeitabstand treffen. Verstärkt werden diese Folgen durch die soziale Mediatisierung. Diese führt nicht nur zu einer Zunahme an Depression und Unzufriedenheit, sondern auch zu einer Abnahme an Empathie und Begeisterungsfähigkeit. Wir misstrauen dem System, welches wir nicht verstehen und verschwinden in unseren individuellen Wissens- und Unwissens- Räumen den sozialen Blasen.

Schlussfolgerung.Wir Menschen brauchen das direkte Gespräch. Wir Menschen brauchen Menschen. Zum Leben brauchen wir als soziale Wesen den Austausch, die Kommunikation, Zuneigung, Verständnis und Trost. Der Erzählinstinkt ist ein tief verwurzeltes Bedürfnis des Menschen und eine ganz zentrale Fähigkeit für das Leben in großen Gruppen. Das Erzählen hilft uns Verhältnisse zu klären, Beziehungen zu begreifen und das Erlebte zu verarbeiten.

Konsequenz. Vor diesem Hintergrund möchte ich exemplarisch ein städtisches Programm entwickeln, welches das Gespräch mit einem direkten Gegenüber provoziert und fördert. Es handelt sich um ein Pilotprojekt, welches zukünftig, so selbstverständlich wie ein Friseur oder eine Bäckerei, in nahezu jedem Viertel der Stadt zu finden sein soll. Ich möchte mich gestalterisch mit dem architektonischen Entwurf eines Raumes auseinandersetzen, welcher eine neue, zeitgemäße Form der Begegnung ermöglicht. Dieser Raum soll wirksam in die Stadt und somit in den urbanen Alltag der Menschen integriert werden. Dabei reagiert die architektonische Gestalt auf ihre unmittelbare Umgebung.

KONZEPT

Das Hinterzimmer der Stadt. Das Stadtviertel bekommt ein Hinterzimmer. Ein urbanes Hinterzimmer, welches durch den Kiosk, dem Tor des Stadtviertels, betreten wird. Und so wie die Stadt kein klassischer Gasthof ist, ist auch das Hinterzimmer kein Raum für ein klassisches Stammtisch-Konzept. Stattdessen wird dieses auf eine neue Ebene gehoben. Es ist ein Raum, der emotionale Identifikation schafft. Das Projekt ist eine Stimulation, die das Gewöhnliche und Altbekannte in Frage stellt. Das beinhaltet Sprengkraft, also das Wissen um die Umsetzbarkeit eines solchen Projektes. Darüber hinaus stellt sich die Frage: „Wieso gibt es so ein Hinterzimmer nicht auch in unserem Viertel?“ Das Hinterzimmer ist nämlich nicht „das“ Hinterzimmer, sondern „ein“ Hinterzimmer von vielen, die nach und nach im Dialog mit den Kiosken der Viertel entstehen sollen.

Der Kiosk. Der Kiosk, das „Tor zum Stadtviertel“. Es ist der Ort an dem man sich, meist im Vorbeigehen, noch schnell eine Zeitung, ein Wasser oder eine Packung Kaugummi holt. Es ist der Ort, an dem man kurz verweilt, um einen Kaffee oder ein Bier zu genießen, manchmal in Gesellschaft, doch nicht selten allein. Der Kiosk bedeutet jedoch für viele mehr- Er hat auch eine emotionale Komponente. Am Kiosk treffen sich Nachbarn und Freunde und sprechen über die Ereignisse in der Nachbarschaft. Fremde lernen sich kennen und kommen ungezwungen ins Gespräch. Dabei werden sie persönlich betreut, anders als in den größeren Supermärkten. An manchen Kiosken treffen sich Menschen wie eine Familie. Sie suchen Kontakt sowie Kommunikation im Alltag und finden am Kiosk Halt und Kontinuität. Der Kiosk ist der „Dorfplatz der Großstadt“, sein Kundenkreis spiegelt die Bürger des Stadtviertels wider.

Lage. Der Jungbusch bekommt ein „Hinterzimmer“.  Der Jungbusch ist ein lebendiges Stadtviertel in der Stadt Mannheim und bildet die urbane Umgebung des Projektes. Es ist ein durchmischtes Viertel, dominiert von kultureller Vielfalt und Wandel sowie der daraus hervorgehenden Spannung. Das Viertel ist geladen, die Menschen haben Redebedarf. Die Umsetzung des stadtplanerischen Projektes „das Hinterzimmer“ wird von einer Partnerschaft zwischen privaten und öffentlichen Akteuren, das heißt dem Kioskbesitzer auf der privaten sowie die Stadt auf der öffentlichen Seite, getragen.

FORMGEBUNG

Grundhaltung. Die Gestaltung ist auf allen Ebenen geprägt von dem Kontrast zwischen der Intimität eines Hinterzimmers und der Offenheit des Kiosks. Die Form des Kiosks ergibt sich aus reduzierten Duplikaten des Kiosks, welche sachte in den Boden zu sinken scheinen. Durch die Verschachtelung sowie das Versenken wird der im Innern verborgene Raum schwer fassbar. Die Form bildet eine Einheit, die ihren Nutzen nicht verrät.  Durch die Reduktion der äußeren Erscheinung des Hinterzimmers, macht dieses dem Kiosk keine Konkurrenz.

Membran. Ein wichtiges Element des Spiels zwischen Offenheit und Intimität ist die Membran. Wie eine lichtdurchlässige, zweite Haut legt sie sich um die Flächen des Hinterzimmers, die aus dem Boden ragen. Sie vereint die Duplikate, dennoch kann man unter ihr die Umrisse der schützenden Dächer der Kioskduplikate erkennen. Die Membran besteht aus dem Material der Stadtbank. Das Licht, das durch die Membran fällt, wird von der Lochung beeinflusst. Es wirkt, als würde man die Gespräche direkt unter der Stadtbank führen.

Innenraum. Nach einem Gespräch mit dem Kioskbesitzer, öffnest du die Tür des Kiosks. Du betrittst ihn und läufst die Treppe hinunter, die hinter dem Kioskbesitzer am offenen Lager vorbei in den Boden läuft. Neben der Treppe läufst du an all den Themen vorbei die du schon, vom Fenster aus, sehen konntest. Dabei handelt es sich um all die Themen, die schon im Hinterzimmer diskutiert wurden und oder werden. Die Themen, die deine Mitmenschen beschäftigen. Unten angekommen richtet sich dein Blick auf den intimsten Punkt des Hinterzimmers. Den unteren Stammtisch, dramatisch beleuchtet durch das Oberlicht. Du läufst geradeaus und der Raum weitet sich. Du spürst eine Präsenz, drehst dich um und siehst den Kiosk über dir emporragen. Eine Perspektive, von der aus du noch keinen Kiosk betrachtet hast.

Das Hinterzimmer birgt zwei Stammtische unterschiedlicher Atmosphären. Der untere richtete sich vom intimsten Punkt des Hinterzimmers in Richtung Kiosk aus und der zweite vom Kiosk in Richtung Stadt. Doch nicht nur die Ausrichtung unterscheidet die beiden Stammtische. Auch die Akustik und das Licht sind in beiden unterschiedlich. Am oberen Stammtisch sind die Geräusche der Stadt viel näher als am unteren. Auch das Licht ist weniger intim und der Raum offener. Intuitiv können sich die Stammtischler einen Stammtisch wählen. Beide Stammtische haben einen Zugang zum Außenraum. Wenn dicke Luft herrscht, kann man einfach kurz raus!

Doch beim oberen Stammtisch kann man mehr als einfach nur raus. Man reist die Türen auf, baut die Wände ab, den Tisch auf und schießt mit dem Stammtisch gemeinsam in den Außenraum!

Vielen, lieben Dank! Über Anregungen und Kommentar freue ich mich sehr!

Juliane Glaser

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