Leitartikel “Being Digital”
Designtheoretiker Prof. Dr. Jan Willmann beschreibt den digitalen Wandel in der Architektur und die tiefgreifenden Folgen für die planenden Disziplinen. Der folgende Artikel erschien im Buch „Shape the World – 60 Jahre Nemetschek“ anlässlich der 60-jährigen Geschichte der Firma Nemetschek, die eng mit dem Digitalisierungsfortschritt im Bauwesen verknüpft ist.
Manchmal kommt es anders, als man denkt. Dies trifft auch auf den Digital Turn, also den digitalen Wandel, im Bauwesen zu. Denn zunächst wird in den 1960er-Jahren eine Computerrevolution ausgehend von immer größeren und immer leistungsfähigeren Großrechnern prognostiziert. Tatsächlich aber gelingt der Durchbruch durch die Verbreitung von kleinen, günstigen Geräten. Die Anwendungsmöglichkeiten der Personal Computer sind zu Beginn stark eingeschränkt, aber sie stehen fast überall zur Verfügung, ob im Wohnzimmer oder im Büro. Dank interaktiver Schnittstellen setzen sich schon bald rechnergestützte Arbeitsprozesse in der Baupraxis durch – zunächst jedoch beschränkt auf Konzepte, die zuvor analog erdacht, entworfen und modelliert wurden.[1]
Dies ändert sich zu Beginn der 1990er-Jahre, als leistungsfähige Computer und Softwarelösungen zunehmend in die kreativen und technischen Aufgaben von Architekten und Ingenieuren eingreifen und Planungsprozesse in einen Dialog zwischen Mensch und Maschine verwandeln.[2] In den folgenden Jahren werden Computer in großem Umfang zum elektronischen Erstellen, Ablegen, Abrufen und Bearbeiten von Plänen eingesetzt, beispielsweise für Bauwerke oder Tragstrukturen, die aufgrund ihrer geometrischen, strukturellen oder materiellen Komplexität bis dahin nur schwer oder gar nicht zu erstellen waren.[3]
Von der Darstellung zum Entwurf
Mit den fortschreitenden technischen Möglichkeiten rückt die Frage nach den planerischen Prozessen in den Fokus. Einen bedeutenden Beitrag leistet das „Paperless Studio“ an der Columbia University, das 1993 vom französischen Architekten Bernard Tschumi mit dem Ziel ins Leben gerufen wird, Architektur nur noch am Computer zu entwerfen. Das Projekt bringt namhafte Vertreter des digitalen Wandels wie Greg Lynn hervor.[4] Lynn befasst sich mit dem fließenden Übergang von statischen Körpern zu animierten Formen und leistet mit Projekten wie dem Embryological House (1999) einen zentralen Beitrag für die digitale Architektur der 1990er-Jahre.[5]
Durch Architekten wie Greg Lynn, Peter Eisenman, Frank O. Gehry, Zaha Hadid, Ben van Berkel, Hani Rashid, Peter Cook und Bernhard Franken vollzieht sich der Übergang von gefalteten zu gerundeten, auch als „Blobs“ bezeichneten, Formen. Computer-Aided Design (CAD)-Programme wie Vectorworks oder Form-Z werden nun nicht mehr allein für darstellende Operationen, sondern für entwerferische Vorgänge genutzt. Neben dem Zeichnen dient die Rechenleistung fortan ebenso der Generierung und Simulation komplexer, stromlinienförmiger Architekturen. Obwohl solche Verfahren bereits seit Ende der 1960er-Jahre im Automobil- und Flugzeugbau eingesetzt werden, gelingt erst jetzt der Durchbruch in der Architektur und damit der Übergang vom analogen zum digitalen Entwerfen.
Digitale Produktion und interaktive Prozesse
Die weichen, sinnlichen Erscheinungsformen des frühen Digital Turn und Projekte wie Lars Spuybroeks Wasserpavillon (1994) oder Frank O. Gehrys bekanntes Guggenheim Museum in Bilbao (1997) überspielen jedoch die konzeptionelle und technologische Sprengkraft, die mit ihnen verbunden ist.
Denn mit der Einführung des digitalen Entwerfens beginnt nahezu zeitgleich die Verbreitung von Computer-Aided Manufacturing (CAM)-Methoden und digitalen Produktionsverfahren. Damit steht nicht mehr die Virtualisierung der Architektur zur Debatte, sondern das Gegenteil: die Materialisierung der digitalen Planung, die in konkrete Bauwerke umgesetzt wird.[6] Nicht-standardisierte architektonische Strukturen können nun maschinell und ohne zusätzlichen Mehraufwand hergestellt werden – sozusagen als „serielle Maßanfertigung“.[7] Projekte wie der Shenzen Bao’an International Airport (1991) von Massimiliano Fuksas stehen hierfür exemplarisch.
Zugleich eröffnen sich neue kollaborative Möglichkeiten in der Planungs- und Baupraxis. Die eingesetzten digitalen Medien, Methoden und Werkzeuge sind nicht nach außen abgeschlossen, sondern können von anderen am Planungs- und Bauprozess Beteiligten weitergenutzt werden, beispielsweise durch gemeinsame Schnittstellen, Skripte oder Datenbanken. So wird all das, was digital erfasst und bearbeitet wird, auch anderen zugänglich gemacht. Damit wird der entwerferische und bauliche Prozess nicht mehr in voller Gänze durch Planer bestimmt. Die digitale Kollaboration relativiert die Position der alleinig schöpfenden Architekten. An seine Stelle treten fachübergreifende Planungs- und Bauprozesse, an denen unterschiedliche Akteure bis hin zu Endnutzern unmittelbar teilnehmen.[8] In dem Zusammenhang ist nicht zuletzt die BIM-Methode zu nennen, deren konzeptionelle und technische Grundlagen bereits in den 1990er-Jahren gelegt werden. Der Schwerpunkt der digitalen Wende im Bauwesen verlagert sich zunehmend von generativen Entwurfsprozessen und Produktionsformen auf die interaktive Beteiligung und Zusammenführung der unterschiedlichen menschlichen, maschinellen, institutionellen, ökonomischen und gesetzlichen Akteure.
Beide Stoßrichtungen des Digital Turn, die digital-materielle wie auch die kollaborativ-partizipative, nähern sich bis heute aneinander an und gehen teilweise ineinander über. Auch wenn zentrale Themen wie Urheberschaft, Kontrolle und Haftung nicht abschließend geklärt sind, eröffnet sich ein vielversprechender kollektiver Horizont. Der Digital Turn ist eine historische Zäsur, die die Praxis der Architektur grundlegend verändert und auch weiter verändern wird – nicht nur aufgrund der neuartigen architektonischen Möglichkeiten und Formen, sondern wegen der damit verbundenen interdisziplinären Arbeitsweisen.[9]
[1] Rheingold, Howard. 1995. Tools for Thought: The History and Future of Mind-Expanding Technology, S. 203ff. Cambridge/MA.: MIT Press.
[2] Negroponte, Nicholas. 1995. Being Digital. New York: Knopf.
[3] Leach, Neil, Turnbull, David und Williams, Chris (Hrsg.). 2004. Digital Tectonics. S. 4–13. London: Wiley.
[4] Lynn, Greg. 1999. Animate Form, S. 9–33. New York: Princeton Architectural Press.
[5] Cachola Schmal, Peter (Hrsg.). 2001. digital real. Blobmeister. first built projects. Boston/Basel/Berlin: Birkhäuser.
[6] Cache, Bernard. 1995. Earth Moves: The Furnishing of Territories. Cambridge/MA.: MIT Press.
[7] Kolarevic, Branko und Pinto Duarte, José (Hrsg.). 2019. Mass Customization and Design Democratization. London: Routledge.
[8] Carpo, Mario. 2008. Monstrous Objects, Morphing Things, in: Perspecta 40/2008.
[9] Willmann, Jan. 2023. Zur Geschichte des Digitalen im Design: Eine Annäherung, in: Hyun Kang Kim (Hrsg): Form Follows Data, S. 211–226. Leiden: Brill/Fink.
Über den Autor
Jan Willmann ist als Professor fu?r Designtheorie an der Bauhaus-Universität Weimar tätig. Er lehrt und forscht im Bereich digitaler Kulturen in Design, Kunst und Architektur und ist Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und Aufsätze.
Über Nemetschek
Die Nemetschek Group ist ein weltweit führender Softwareanbieter für die digitale Transformation der AEC/O- und Medienbranche. Die intelligenten Softwarelösungen decken den gesamten Lebenszyklus von Bau- und Infrastrukturprojekten ab und ermöglichen Kreativen, ihre Arbeitsabläufe zu optimieren. Kunden können Gebäude und Infrastrukturen effizienter und nachhaltiger planen, bauen und verwalten sowie digitale Inhalte wie Visualisierungen, Filme und Computerspiele kreativ entwickeln. Der Softwareanbieter treibt Innovationen wie digitale Zwillinge sowie offene Standards (OPEN BIM) und Nachhaltigkeit in der AEC/O-Industrie voran und erweitert sein Portfolio kontinuierlich, u.a. durch Investitionen in Start-ups. Derzeit gestalten mehr als sieben Millionen Anwender die Welt mit den kundenorientierten Lösungen unserer vier Segmente. 1963 von Prof. Georg Nemetschek gegründet, beschäftigt die Nemetschek Group heute weltweit rund 3.600 Experten.