Leitartikel “Farbe und Raum – Ein unterschätztes Wechselspiel der Gestaltung”
Farbe und Raum
Ein unterschätztes Wechselspiel der Gestaltung
Die Architektur hat spätestens seit der Moderne ein zwiespältiges Verhältnis zu Farbe. Während weiße Oberflächen Reinheit, Unschuld und Perfektion vermitteln, beeinflusst die Raumgestaltung mit Farbe maßgeblich unsere Wahrnehmung und Emotionen. Farbe erweckt Erinnerungen und erzeugt Atmosphären – beruhigend, aufregend, beängstigend. Doch gerade die Vielfalt und Sinnlichkeit von Farbe wurde im Laufe der Geschichte immer wieder – und insbesondere im Fortschrittsbestreben der modernen Architektur – als überholte und überflüssige Dekoration erachtet. In Ornament und Verbrechen (1908) beschreibt Adolf Loos das, was nicht glatt, weiß und schmucklos gestaltet ist, als ungesund, rückschrittlich und degeneriert.
Von der Chromophobie zur Polychromie
Der Forderung nach Weiß als Ausdruck von Erhabenheit und Modernität geht eine lange Tradition der Abwertung von Farbigkeit voraus. In Chromophobia (2000) beschreibt David Batchelor das historische Vorurteil gegenüber Farbe in westlichen Kulturen. „Generations of philosophers, artists, art historians and cultural theorists of one stripe or another have kept this prejudice alive, warm, fed and groomed. As with all prejudices, its manifest form, its loathing, masks a fear: a fear of contamination and corruption by something that is unknown or appears unknowable.“ Batchelor sieht das Misstrauen im Zusammenhang mit Farbe durch deren Assoziation mit dem Sonderbaren, dem Unwägbaren und dem rein Dekorativem begründet. Farbe würde entweder dem Fremden und Vulgären zugeordnet oder als primitive Oberflächlichkeit abgetan. Dies verhindere die eingehende Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung.
In der Architektur wird stattdessen oft der physischen Struktur eines Raums Vorrang in der Gestaltung eingeräumt. Klare Raumgrenzen, das Spiel aus Masse und Leere, Strukturen der Materialoberflächen sind typische Merkmale der Gestaltung, während die Bedeutung von Farbe im Entwurf als zweitrangig betrachtet wird. Zu unrecht – wie sich wiederum an bedeutenden Vertretern der Moderne belegen lässt. Obgleich ikonische Bauten der klassischen Moderne im äußeren Erscheinungsbild dem propagierten Ideal der weißen, reinen Form folgen, offenbaren die Innenräume – auch bei Loos – eine lebendige Farbigkeit.
Ein Vorreiter in der Kombination von Raum- und Farbgestaltung war Le Corbusier. Im Gegensatz zu den zurückhaltenden weißen Fassaden von zum Beispiel Maison La Roche oder Maison Guiette gestaltete er die Innenräume der Gebäude als Räume für Menschen und daher mit unterschiedlichen durch Farben beeinflussten Atmosphären. Im weiteren Verlauf seines architektonischen Werks und basierend auf seiner vorangegangenen Tätigkeit als Maler veröffentlicht er eine Reihe harmonierender Farbtöne, die im Entwurf wie ein Werkzeug verwendet werden können. Die von ihm konzipierte Farbklaviatur Polychromie Architecturale aus den Jahren 1931 und 1959 umfasst insgesamt 63 Farbtöne mit variierenden Helligkeitswerten, die sich je nach angestrebter Raumatmosphäre unterschiedlich anwenden und kombinieren lassen.
Le Corbusiers Farbtöne repräsentieren geschichtliche Bezüge und natürliche, bekannte Farbwelten. Sie provozieren Veränderungen der Raumproportion und sprechen die Sinne an. Während der nach außen weiße Kubus in seiner Plastizität unverfälscht ist, betont die vollflächige Verwendung von Farbe auf Wänden und Bauteilen deren Eigenständigkeit und Flächigkeit. Das Objekthafte und Dreidimensionale tritt im Innenraum in den Hintergrund. Stattdessen wird der Farbeinsatz zum Hilfsmittel, um die Raumwirkung zu unterstützen. Ein helles Blau symbolisiert den Himmel und weitet den Raum, ein erdiges Braun steht dagegen für Stabilität und fixiert die Lage eines Bauteils. Die Wahrnehmung des Raums ist nicht mehr nur durch seine physischen Grenzen bestimmt, sondern wird in entscheidender Weise durch die Verwendung von Farbe beeinflusst. Farbe ist ein fester Bestandteil der räumlichen Komposition. Le Corbusier sagt dazu: „Die Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie der Grundriss und der Schnitt. Oder besser: die Polychromie, ein Bestandteil des Grundrisses und des Schnittes selbst.“
Die individuelle Wirkung von Farbe
Trotz der exakt bestimmbaren Farbtöne der Polychromie Architecturale von Le Corbusier, der RAL-Reihe oder anderer Farbpaletten bleibt in der psychologischen Wahrnehmung eine gewisse Unwägbarkeit, die bei der Gestaltung mit Farbigkeit in der Architektur beachtet werden muss. Obwohl festgehalten werden kann, dass jede Farbgruppe und jeder Farbton Auswirkungen auf die Raumwahrnehmung und emotionale Reaktionen bei den Nutzer*innen hervorbringen, kann nur bedingt vorherbestimmt werden, wie stark diese Auswirkungen auftreten und welche Emotionen sie provozieren. Wissenschaftlich gesehen, ist das emotionale Erleben spontan und affektiv, also ein tief verankertes Urmuster aus einer Zeit, in der Menschen noch nicht ständig in Räumen unterwegs waren. Seit einigen Jahren wird zur emotionalen Wirkung von Farbigkeit auf Betrachtende geforscht, denn diese gilt als einzige relativ universelle – also kultur-, geschlechter- und altersübergreifende – Wirkungsgröße auf Menschen. Die messbare spontane emotionale Reaktion gibt Auskunft über Raumatmosphären, in denen wir uns angeregt oder entspannt, wohl oder unwohl fühlen. Der Kompetenzbereich Farbdesign der HAWK Hildesheim, unter der Leitung von Markus Schlegel, Professor für Projektentwicklung Farbe, untersucht zusammen mit dem Swiss Center für Design und Health aktuell diese Wirkungsebene, um sich validen Daten zur Wirkung von Farbigkeit im Raum anzunähern.
Die Wirkung auf die Betrachtenden ist bezüglich einer ästhetischen Präferenz individuell unterschiedlich und nicht identisch. Wie Farbtöne eingeordnet und bewertet werden, hängt unter anderem vom kulturellen Hintergrund, von der Sozialisation und persönlichen Erfahrungen ab. Auch geografische und klimatische Bedingungen prägen die Wahrnehmung von Farbe. Aus diesen lebensweltlichen Erfahrungen resultieren Farbpräferenzen jedes Einzelnen, die Axel Buether, Professor für Didaktik der visuellen Kommunikation an der Bergischen Universität Wuppertal, als Farbheimat bezeichnet. Die individuelle Farbheimat beeinflusst, wie wir uns architektonische Räume erschließen.
Zudem ist das Zusammenspiel mit Licht entscheidend. Farbe kann nur unter der Anwesenheit von natürlichen oder künstlichen Lichtquellen wahrgenommen werden. Diese Lichtquellen mit ihren unterschiedlichen Wellen verursachen unterschiedliche Reflexionen auf der Netzhaut des Auges und beeinflussen damit, wie Helligkeitswerte und Farbtemperaturen auf den Einzelnen wirken. Für den architektonischen Entwurfsprozess bedeutet das, Raum, Farbe und Licht als Einheit zu verstehen und gleichwertig zu betrachten. Atmosphäre entsteht aus der Kombination dieser drei Faktoren.
Raumatmosphären
Mit Farbflächen kann gezielt in die Atmosphäre von Räumen eingegriffen werden, um deren Nutzung zu unterstützen. Susanne Brandherm, von brandherm + krumrey interior architecture, beschreibt die gestalterischen Möglichkeiten so: „In ihrer Verbindung können Farbe und Raum eine faszinierende Dynamik erzeugen. Farben formen nicht nur visuelle Eindrücke, sondern schaffen auch Assoziationen, Atmosphären und Dimensionen im Raum. Farbe ist ein großartiges Werkzeug, um die Gestaltung und Wahrnehmung von Räumen zu beeinflussen.“ Räume können durch Farbe als laut oder leise, warm oder kalt, einladend oder abweisend, entspannend oder anregend, usw. wahrgenommen werden. Die Gestaltung mit Farbe hat somit Auswirkungen auf die Qualität und Identität von Räumen sowie auf das Verhalten und Wohlbefinden der Nutzer*innen.
Auswirkungen auf die Qualität – Farbe beeinflusst die Wirkung von Raumgröße und -proportion. Lange Flure können dank farblicher Gliederung scheinbar verkürzt werden, kleine Räume können dagegen durch helle Akzente optisch vergrößert werden. Bauteiloberflächen und Möblierung wirken in naturnahen Farben hochwertig und nachhaltig, während grelle Farben eher mit künstlichen, industriell produzierten Materialien assoziiert werden.
Auswirkungen auf die Identität – In großen Gebäudekomplexen kann Farbigkeit dazu verwendet werden, die gleichförmige Wiederholung architektonischer Elemente wie der Tragstruktur aufzulösen und stattdessen Orientierung und Identität zu schaffen. Durch die Gestaltung mit verschiedenen Farbtönen, sanften oder kräftigen Kontrasten können offene Lern- oder Bürolandschaften zoniert und in unterschiedliche Raumsituationen gegliedert werden.
Auswirkungen auf das Verhalten und Wohlbefinden der Nutzer*innen – Je nach Anforderungen und Zweck der Räume dienen Farben dazu, die Kreativität zu steigern, Regeneration und Erholung zu fördern oder Kommunikation und Gemeinschaft zu unterstützen. Ein leuchtendes Gelb, Orange oder Rot erregt Aufmerksamkeit und setzt Akzente. Ein Graugrün oder Erdfarben wirken dagegen naturnah und beruhigend. Für Räume, die dem längeren Aufenthalt, der Behaglichkeit oder dem konzentrierten Arbeiten dienen, eigenen sich zurückhaltende Nuancen, während intensive Farbtöne und kräftige Kontraste eine Atmosphäre schaffen, die Aktivität und Frische vermittelt. Nicht zuletzt können Farben dazu verwendet werden, heilsame Atmosphären zu schaffen, zum Beispiel in Gebäuden des Gesundheitswesens. Das monotone und sterile Weiß von Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen und Altenpflegezentren hat sich längst als überholt entpuppt. Für gesunde, menschenorientierte Räume ist das Entwerfen mit Farbe unverzichtbar.
“Farbe ist weit mehr als nur ein ästhetisches Element; sie ist ein kraftvolles Werkzeug, das Stimmungen kreiert, Identitäten reflektiert und sogar das Wohlbefinden und die Produktivität beeinflussen kann. In meiner Arbeit als Innenarchitektin habe ich die transformative Kraft der Farbe erlebt – sie kann Räume beleben, harmonisieren oder beruhigen, je nach gewünschtem Effekt.” Natascha Ninic (Ninic Interior Design, Vizepräsidentin des bdia)
Farbigkeit erzählt Geschichten, löst Assoziationen aus und offenbart Zeitbezüge. Letztere sind in jeglicher Planung von Bedeutung. Die aktuellen großen Tendenzen und Entwicklungen der Welt, auch Megatrends genannt, haben immer auch Auswirkungen auf die räumliche Gestaltung. Themen wie Gesundheit, Nachhaltigkeit und Individualisierung oder Transformationen im Bereich der Mobilität und Arbeitswelten sind von gestalterischer Relevanz, für die es Lösungen braucht. Auf der Messe FAF FARBE, AUSBAU & FASSADE, die vom 23. bis 26. April 2024 in Köln stattfindet, stellt das IIT Institute International Trendscouting der HAWK unter dem Titel FAF FARBWERTE für wesentliche Handlungsfelder der nahen Zukunft wie vitales Arbeiten, sinnliches Erholen oder kreatives Gestalten eine kuratierte Farbpalette als Angebot für Gestaltende vor. Statt Farb- und Materialtrends als Treiber zu präsentieren, geht es darum, die Transformationsprozesse unserer Zeit als treibende Kraft im Bereich Farb- und Raumgestaltung zu verstehen und abzubilden. > mehr