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Entwurf • Design Schleicher.Ragaller, Stuttgart
Michael Ragaller Bauherr • Client Astrid Schäfer-Ragaller & Michael Ragaller, Waldenbuch
Standort • Location Forststraße 4, Waldenbuch
1969 in Grünstadt/Pfalz geboren 1989-1996 Architekturstudium in Stuttgart und Barcelona 1996-2007 Mitarbeit Fertigstellung • Completion Dezember 2014
bei verschiedenen Architekturbüros in Stuttgart 2007-2015 Akademischer Mitarbeiter an der Universität Stuttgart Nutzfläche • Floor space 190 m 2
seit 2003 eigenes Büro in Stuttgart seit 2009 Büro Schleicher.Ragaller in Stuttgart mit Domenik Schleicher Fotos • Photos Zooey Braun, Stuttgart
... wurde den bedrückenden Räumen der 1960er-Jahre-Architektur ein offener und luftiger Charakter gegeben. • ... the gloomy rooms of 1960s architecture were given an open and airy look.
S tadtleben in Gründerzeit, mit Stuck und Parkett und mit ordentlich Raumhöhe im Wohngarten öffnet. Durch das Entfernen von Zwischenwänden, das Öffnen der bisher
geschlossenen Küche und das Freilegen der weiter ins Dachgeschoss führenden Treppe
Tausch ge gen Landluft, 1960er-Jahre-Doppelhaushälfte und Deckenhöhen beinahe
zum An fas sen? Vor dieser Frage standen wir als vierköpfige Familie, als wir – getrieben von entstand ein fließender Raum – ein großzügiger Koch-, Ess- und Wohnbereich. Die
der unverhältnismäßigen Preisentwicklung auf dem Stuttgarter Immobilienmarkt – began- Treppe wirkt nun als Raumteiler, dessen räumliche Wirkung mit dem neu eingebauten
nen, uns mit dem Erwerb eines 1960er-Jahre-Hauses in Waldenbuch zu beschäftigen. Der Heizkamin und durch das Öffnen der Decke bis unter die geneigte Dachfläche verstärkt
Umgang mit Gebäuden dieser Epoche ist mittlerweile auch ein Haupttätig keits schwer - wurde. Die hierdurch entstandene hohe Wandfläche ist mit „gris clair“, einem Grauton
punkt unseres Architekturbüros geworden und stellt uns immer wieder vor die gleiche Fra - aus der Corbusier-Farb palette gestrichen, was dem Raum Tiefe verleiht. Oberlichter lei-
ge: Bleibt bei all der Fokussierung auf Brandschutz, Dämmwerte, alternative Energie ge win - ten natürliches Licht bis weit in den Wohnraum hinunter. Für weitere Farbakzente sor-
nung (das sind die übergroßen Kühlschränke namens „Luft wärme pumpe“ in den Vorgär - gen Siebdrucke – vornehmlich Hard-Edge-Werke von Anton Stankowski, Georg Karl
ten der Neubaugebiete und die drei Solar zellen auf den Dächern!) und – vor allem im Pfahler, Rupprecht Geiger und Leon Polk Smith.
Privatwohnungsbau – auf die Vielzahl an unterschiedlichen KfW-Kreditmodellen für ener-
gieeffizientes Sanieren, wofür natürlich für jeden einzelnen Aspekt ein weiterer Spezialist ... sind wir dazu da, die Dinge, die bestehen, weiter zu vollenden?
in der Planung auftaucht, nicht ein Faktor unberücksichtigt? – Das Raumgefühl! Schwer zu
verifizieren, geschweige denn nach allgemeingültigen Maßregeln in förderfähige Anträge Über eine große Glasschiebtüre gelangt man schwellenlos auf die neu hinzugefügte Holz -
zu packen! Nun handelte es sich in unserem Falle bei der zur Wahl stehenden Immobilie terrasse, die teilweise vom Gebäudevolumen überdeckt ist und somit neben dem kon-
in der Kleinstadt Walden buch, eine halbe Auto stunde südlich von Stuttgart gelegen, um struktiven Sonnenschutz einen zum Garten öffenbaren und überdachten Wohnraum auch
keine Bauikone dieser Epoche aus der Hand von Sep Ruf, Egon Eiermann oder gar Richard während eines Sommerregens ermöglicht. Im Inneren wurde das kleinteilige Mo saik -
Neutra und trotzdem überzeugte uns nach Heraufsteigen der Treppe aus dem Eingangs ge - parkett durch einen Eichendielenbelag mit Fußbodenheizung ersetzt und ein Be stands -
schoss sofort der Blick in den noch zugewucherten Garten. Und so standen wir vor der heizkörper unter dem fest verglasten Gartenfenster mit einer weiß lackierten Holz v er -
Frage, die schon Egon Eiermann kannte: „Sind wir dazu da, immer etwas Neues zu ma - kleidung zum Sitzbereich ausgestaltet, der sich im Außenbereich als Holzsitzbank auf der
chen, oder sind wir dazu da, die Dinge, die bestehen, immer weiter zu vollenden?“ Terrasse fortsetzt. An der Ostseite des Hauses wurde wiederum ein mit senkrechten wei-
ßen Holzstäben verkleideter Erweiterungsbau geschaffen, der ein großzügiges und na -
Sind wir dazu da, immer etwas Neues zu machen, oder ... türlich belichtetes Bad ergibt und gleichzeitig von den im Dach befindlichen Kin der zim -
mern als Balkon genutzt werden kann. Auch im Bad- und schwellenlosen Dusch be reich
Im Norden und damit zur Straße hin stellt sich das Haus als zweigeschossiger Baukörper schaffen neue, beheizte Zementfliesen – diesmal in Marineblau gemustert – eine be hag -
mit einem kleinen, vorgelagerten Garten dar. Nach Süden wiederum reagiert das Haus liche Atmosphäre. Weiße, senkrechte Holzstäbe ersetzen auch eine vormals dunkle Per -
auf die leicht ansteigende Topografie mit einem geschosshohen Gebäudeversprung und gola auf der Terrasse und bilden die Geländerverkleidung des Balkons über dem Haus -
bildet zum höher gelegenen, südlichen Grundstücksteil lediglich ein Geschoss aus. Hier eingang. Die Küche, Regale, Schränke, Sitzbänke sowie die Garderobe wurden einheitlich
erstreckt sich ruhig und abgeschirmt der Hauptgarten mit einem wunderschönen, nahe- und zurückhaltend als schlichte, weiß-lackierte Festeinbauten vom Schreiner mit einge-
zu 50 Jahre alten Baum- und Pflanzenbestand. Im Zugangsgeschoss befinden sich eine frästen Griffleisten oder Lüftungsöffnungen ausgeführt und die Arbeits- und Wasch -
Gäste wohnung und der Arbeitsbereich mit Blick in den zur Straße vorgelagerten Garten. tischplatten im gleichem Weißton als polierte Quarzsteinoberflächen gefertigt. Vom bisher
Keller- und Technikräume sind hangseitig im Erdreich versteckt. Eine einläufige Treppe – ungenutzten Dach – hier befinden sich heute die beiden Kinderzimmer – hat man nun
von uns mit Eichendielen belegt und auf Höhe der Antrittsstufe zur Sitzbank erweitert – einen herrlichen Blick in die Baumkronen des Wohngartens. Ein Besucher, der kürzlich
führt von der neu mit gemusterten Zementfliesen ausgelegten Garderobe hinauf in den bei uns zu Gast war, fühlte sich an Finn Juhl und sein Wohnhaus im dänischen Ordrup
Wohnbe reich, der sich mit einer Glasfront ebenerdig zum südseitig gelegenen erinnert, ein Haus aus den 1940er-Jahren. Aber das wäre jetzt wieder ein anderes Thema!
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