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Prof.in Ingrid Breckner

                                 1954 geboren in Rumänien 1974 zuerst Studium der Erziehungswissenschaften und ab 1977 der Soziologie an der LMU München 1991 Promotion in Soziologie an der Universität Bielefeld, neben
            Foto: Tatsiana Tkachova  Leitung des WohnForum München 1994 Gastprofessur an der Universität Kassel 1995-2021 Professur für Stadt- und Regionalsoziologie zuerst an der TU Hamburg-Harburg und ab 2006 an der
                                 Studium und Promotion wissenschaftliche Mitarbeit im medienpädagogischen Institut Jugend, Film Fernsehen in München, stadtsoziologische Forschungsprojekte und 1989-1994 wissenschaftliche
                                 HafenCity Universität Hamburg. Parallel zu Forschung und Lehre diverse wissenschaftliche Beratungstätigkeiten unter anderem für die Seestadt Aspern in Wien und die IBA Wien





























             Kinder und Jugendliche kochen und laden die Eltern ein. • Children and teenagers cook and invite their parents.  Im Erker wird nach dem Essen gemalt und gespielt. • After the meal, they paint and play in the bay window.




             neren Wohnumgebung. Wohnqualität umfasst mehr als die privat verfügbaren Quad-  gebacken, gegessen, gespielt, gelernt, geklönt, geturnt und getanzt sowie handwerklich
             ratmeter Wohnfläche. Sie entscheidet darüber, ob Menschen länger an einem Wohnort   gearbeitet und repariert werden kann. Solche Räume ergänzen den privaten Wohnraum
             verweilen und diesen als Habitat gestalten oder öfters andernorts nach für sie passen-  und unterstützen Freundschaftsnetze sowie eine sozialverträgliche Alltagspraxis in der
             den Möglichkeiten suchen. Unbefriedigende Wohnqualitäten, die aufgrund mangelnder   Nachbarschaft. Im auf Wohnraum pro Kopf begrenzten sozialen Wohnungsbau oder klei-
             Alternativen ertragen werden, begünstigen längerfristig Resignation, soziale Isolation und   nen Wohnungen fehlen solche Möglichkeiten allzu oft. Rückblicke in die lange Geschichte
             Polarisierung oder sogar Vandalismus und Konfliktkonstellationen. Diese Phänomene   gemeinschaftlichen Wohnens  zeigen, dass die Ergänzung privaten Wohnraums schon
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             werden in der Stadtforschung immer wieder mit dem Stichwort „überforderter“ Nach-  seit dem 19. Jahrhundert aus ökonomischen, politischen und sozialen Intentionen erfolgt.
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             barschaften oder Quartiere diskutiert . Dennoch oder gerade deshalb betonen Akteure in   So experimentierten die Frühsozialisten in Frankreich und Großbritannien – als Reaktion
             der Stadtpolitik und Stadtforschung bis heute die hohe Relevanz resilienter Quartiersent-  auf die mit der Industrialisierung entstandenen städtischen Wohnungsnöte – mit gemein-
             wicklung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, demokratisches Zusammenleben und   schaftlichen Wohnformen in Ergänzung zu geforderten Verbesserungen der Arbeitsbedin-
             nachhaltige urbane Transformation . Nachhaltige Quartiersentwicklung setzt bedarfsge-  gungen.  Angeregt durch Friedrich Engels fundamentale und bis heute relevante Kritik an
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             rechte räumliche Möglichkeiten innerhalb und außerhalb privater Wohnräume voraus:   der gescheiterten bürgerlichen Lösung der „Wohnungsfrage“  entstanden in verschiede-
             Je weniger privater Raum innerhalb einer Wohnung zur Verfügung steht, je wichtiger ist   nen europäischen Ländern unter anderem verschiedene Modelle von „Einküchenhäu-
             deren Nutzungsoffenheit. Dasselbe gilt für nahe gelegene Freiräume und Orte, an denen   sern“ , in denen bei reduzierten privaten Wohnflächen in Gemeinschaftsküchen kollektiv
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             sich isolierte und zunehmend diversere QuartierbewohnerInnen aus unterschiedlichen   gekocht, gegessen und gefeiert wurde. In Wien können bis heute seit den 1920er-Jahren
             Altersgruppen, Haushaltstypen und souielaen Millieus begegnen.   entstandene „extra Räume“ besichtigt werden, in denen gemeinsam gewaschen, Kinder
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             Wohnen jenseits privaten Wohnraums                           30 kostenlos zugänglichen „Familienbädern“, in denen sie früher aufgrund fehlender
                                                                          privater sanitärer Einrichtungen gewaschen wurden und bis heute planschen können.
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             Zu solchen „extra Räumen“ gehören attraktive wohnungsnahe Grün- und Sportflächen,   Die bei Weitem nicht vollständige Erwähnung historischer Beispiele gemeinschaftlich
             Spielplätze sowie Konsumorte für regelmäßigen Bedarf. Sie ermöglichen erste nachbar-  genutzter „extra Räume“ ist in diesem Zusammenhang vor allem wichtig, weil sie neu-
             schaftliche Beziehungen, aus denen sich auch gemeinschaftliche Aktivitäten im öffent-  zeitliche gemeinschaftliche Wohnpraktiken in Baugenossenschaften, Bau- und Wohnge-
             lichen Raum entwickeln können. Das stadtplanerische Modell der „15-Minuten-Stadt“   meinschaften, Clusterwohnungen sowie in kommerziell betriebenen Co-Living-Modellen
             oder der „Stadt der kurzen Wege“ propagiert deshalb eine komplexe Ausstattung der   inspirieren. „Extra Räume“ auf Dächern, in Kellern und Höfen gehören in vielen Neubau-
             Quartiere als Orte der Daseinsversorgung. Dieses Konzept wird sogar von der Hamburger   ten längst zum Standard und werden für gemeinschaftliche Freizeitaktivitäten, Erholung,
             Handelskammer unterstützt,  weil es vielfältige Nutzungen in Erdgeschossen ermöglicht   Homeoffice, Kinderbetreuung oder Feiern genutzt. Im Wohnungsbestand fehlen sie aber
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             und damit auch öffentlichen Stadtraum belebt. Komplexe Quartiersstrukturen sind nicht   weitgehend, wenn sie nicht wie in Wien von Anfang an mitgedacht und gepflegt wur-
             nur für BesucherInnen interessant. Durch die Verkürzung der Zeit für Be- und Versorgung   den. Vielerorts erlebten gemeinschaftlich genutzte „extra Räume“ in Wohnungsbestän-
             entsteht auch für Wohnende zeitlicher Spielraum, der zu einem entspannteren Alltag   den aus wirtschaftlichen Motiven auch eine Umnutzung zu lukrativeren Gewerbeflächen.
             in den privaten Wohnräumen und in der Nachbarschaft beiträgt. Gemeinschaftliche  Angesichts der Verteuerung städtischen Bodens und Wohnraums, geforderter privater
             Aktivitäten, die im öffentlichen Raum oder in den eigenen vier Wänden selten oder nie   Wohnsuffizienz, zunehmender Flächenversiegelung und klimatischer Belastungen sowie
             Platz finden, erfordern jedoch auch niederschwellig zugängliche und angemessen aus-  fortschreitender Individualisierung und Vereinsamung stellt sich umso dringender die
             gestattete „extra Räume“, in denen zu allen Jahreszeiten gemeinschaftlich gekocht und  Frage, in welchen Räumen sich das für die fachlich favorisierten nachbarschaftlich beleb-

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