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Anna Kern und Sebastian Heinzelmann


                                 Kern Architekten wurden 1986 von Peter Kern im Allgäu gegründet und werden seit 2022 von Anna Kern und Sebastian Heinzel-
                                 mann geführt. Geprägt von ihrem Studium an der Bauhaus Universität Weimar und der Arbeit in diversen Architekturbüros in
                                 Frankfurt und Zürich, bringen die beiden einen frischen Blick von außen in die regionale Architekturlandschaft.























            Foto: Célia Uhalde                                                                                                        Foto: Nicolas Felder



             Die Bohlenwand erhält ihr holzsichtiges Erscheinungsbild zurück. • Timber plank wall with original appearance   Kalkputz und Kalkstampfboden regulieren das Raumklima. • Lime plaster and a lime-stabilised earth floor



             von • by Anna Kern und Sebastian Heinzelmann, Mindelheim
            D   as Vöhlinschloss erstreckt sich über einem teilunterkellerten Erdgeschoss mit beinahe   mit Stahlträgern und -stützen in Decken und Flurwänden entlasten das Mauerwerk und
                                                                          die Auflager der Zwerchhäuser. Die historische Putzoberfläche wurde restauratorisch mit
                quadratischem Grundriss auf zwei Obergeschosse, ein ausgebautes Dachgeschoss
             und einen kalten Dachspitz. Die kleinformatigen Fensteröffnungen, verputzten Fassaden   Hinterspritzungen und strukturellen Festigungen gesichert und anschließend material-
             und beiden Ecktürme mit Schießscharten verleihen ihm eine charakteristische Wehrhaf-  gleich mit einem trockengelöschten Kalkputz überarbeitet. Eine rund vier Quadratmeter
             tigkeit. Der südöstliche Turm schließt mit einem Spitzdach, der nordwestliche mit einer   große Musterfläche lässt die spätmittelalterliche Zeitschicht weiterhin erfahrbar. Die Putz-
             verblechten Dachterrasse. Auf der Nord- und Südseite brechen je ein Zwerchhaus aus   herstellung orientierte sich am Bestand: Sumpfkalk wurde schichtweise mit sandigen
             dem Satteldach hervor; drei Aborterker an der Ostseite und ein weiterer Erker im Nor-  Zuschlägen gelagert und zu einer feuchten Masse verarbeitet.
             den ergänzen die Gliederung. Der Bau wurde um 1470 unter Leonhard Vöhlin begonnen.
             Der ursprüngliche Baukörper verfügte über eine Wohnetage im zweiten Obergeschoss,  Substanzbewahrung und Rekonstruktion im Detail
             Lager- und Wirtschaftsräume im darunterliegenden Bereich und wurde 1493 mit einem
             zweigeschossigen Satteldach vollendet. Eine erste barocke Überformung betraf ab 1725 vor   Die Oberfläche erhielt eine weiße Kalktünche, ohne ornamentale Elemente wie Eckquade-
             allem das zweite Obergeschoss und brachte stilistische Einbauten und die Anfügung der   rungen oder Begleitstriche zu rekonstruieren. In der Rauchküche des zweiten Obergeschos-
             Aborterker mit sich. 1760 erfolgte der Ausbau des Dachgeschosses mit dem Einbau des  ses wurde die originale, rote Farbfassung mit natürlichen Pigmenten rekonstruiert. Vorhan-
             Rittersaals und der Zwerchhäuser. Bis ins 20. Jahrhundert blieb die Substanz weitgehend   dene Lehm- und Kalkschichten blieben erhalten und wurden gefestigt. Ein Kalkstampf-
             unverändert; dadurch ist der Bestand an bauzeitlichen Elementen ungewöhnlich hoch.  boden ersetzte das bisherige Erdreich im Erdgeschoss und verbessert durch seine hygro-
                                                                          skopischen Eigenschaften das Raumklima dauerhaft. Nach vollständiger Trocknung wird
             Bestandsaufnahme, Sanierungsstrategie und Materialkonzept    er geglättet und erhält eine terrazzoähnliche Oberfläche. Großes Augenmerk galt dem
                                                                          maximalen Erhalt bauzeitlicher Hölzer. Geschädigte Bereiche wurden präzise lokalisiert,
             Vor der Sanierung wurde ein verformungsgerechtes, dreidimensionales Laserscan-Auf-  minimalinvasiv entnommen und materialgerecht ergänzt. Die Holzbohlenständerwand im
             maß durchgeführt. Da Schloss und Umgebung als Einzel- und Bodendenkmal eingestuft   ersten Obergeschoss wurde querschnittsgleich ergänzt, von Kalkschichten befreit und mit
             sind, erfolgten sämtliche Erdarbeiten unter archäologischer Begleitung. Rammkernboh-  Leim gesichert. Eine schwarz gefasste Renaissance-Bohlenwand mit Profilleisten wurde
             rungen und Baggerschürfe ermöglichten die Prüfung der Standsicherheit. Dendrochrono-  ebenfalls freigelegt und restauriert. Fehlende Tür- und Treppenfassungen sind monochrom
             logische Analysen bestätigten die Bauphasen: Holzproben aus Dachwerk und Deckenbal-  in barockem Blau rekonstruiert und historische Fenster durch vorgesetzte Isoliervergla-
             ken datieren auf den Winter zwischen 1491 und 1492; weitere Proben belegen barocke   sung ergänzt, während jüngere Fenster nach historischem Vorbild ersetzt wurden. Auch
             Eingriffe zwischen 1725 und 1726 oder 1760 und 1761. Die Holzbalken über dem ersten  ehemals vermauerte Schießscharten wurden geöffnet und witterungsgeschützt gesichert.
             Obergeschoss sowie eine mittelalterliche Stabwand gehören zur Originalsubstanz. Neben   Die Steinmetzarbeiten umfassten unter anderem die Neuverlegung eines handgeformten
             den konstruktiven Elementen blieb auch ein außergewöhnlich umfangreicher bauzeitli-  Ziegelbodens im ersten Obergeschoss. Die Ziegel stammen aus einer niederbayerischen
             cher Putzbestand aus dem späten 15. Jahrhundert erhalten. Vor allem das Erd- und erste   Manufaktur und wurden mit Kalksand verfugt. Das Dach wurde mit naturroten Biber-
             Obergeschoss zeigen ursprüngliche Lager- und Funktionsräume mit geglätteten Wandflä-  schwanzziegeln neu eingedeckt; wo möglich, kamen originale Ziegel wieder zum Einsatz.
             chen und einfachen Ausstattungen. Die barocken Umbauten in den oberen Geschossen   Tuff- und Sandsteinelemente wurden ergänzt und restauriert. Kupferne Rinnen und Ablauf-
             lassen sich in zwei deutlich unterscheidbare Ausführungsphasen gliedern. Die statische   körper entstanden in traditioneller Falztechnik. Die Sanierung verbindet die sorgfältige
             Sicherung erforderte eine Ertüchtigung der Gründung durch Betonausgießungen und   Rekonstruktion bauzeitlicher Bauteile mit einem gezielten Eingriff in die Statik und Aus-
             Edelstahlzuganker, um eine Grundbruchsicherheit zu gewährleisten. Zusätzlich wurde in   stattung. Das Schloss bleibt so nicht nur in seiner äußeren Erscheinung, sondern auch in
             der Decke über dem Erdgeschoss ein Stahlbetonringanker eingebracht, der den Hori-  seiner materiellen und konstruktiven Tiefe als historisches Zeugnis lesbar – und wird in
             zontalschub der Gewölbe abfängt. Ergänzende Zuganker und punktuelle Verstärkungen   eine neue Nutzung überführt, ohne seinen geschichtlichen Kontext zu verlieren.

                                                                                                                          AIT 7/8.2025  •  123
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