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Prof. Mikala Holme Samsøe
1975 geboren in Dänemark 2003 Architekturstudium an der Königlichen Kunstakademie Kopenhagen 2010 Executiver Masterstudiengang in Innovation
and Leadership an der Copenhagen Business School und der Pädagogischen Universitätsschule Universität Aarhus 2021 Gründung ensømble Studio
Architektur in Berlin mit Prof. Amandus Samsøe Sattler, Planung von Kollaborationen und Entwicklung nachhaltiger Themen, vor allem im Bestand und
mit weiterverwendeten Materialien 2020 Professur für Entwerfen und Gestalten an der Technischen Hochschule Augsburg
Foto: © The Estate of Yves Klein / VG Bild-Kunst, Bonn 2025 Foto: Art Hub Copenhagen, Interior von Pihlmann Architects, Foto Hampus Berndtson
Sinnbild der Moderne: Der entmaterialisierte Raum als Symbol des Gefühls menschlicher Grenzenlosigkeit Vorhandendes lagern und daraus etwas machen: Gipskarton wurde nicht entsorgt, sondern transformiert.
in Gegensatz zu der expansiven Moderne der Nachkriegsjahre . Der gefühlt uneinge- Küche mit Echtholzfurnier ist erst 20 Jahre alt, die rohe Betonwand, die Terrakottafliesen
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schränkte Zugriff auf globale Ressourcen, in Kombination mit neuen technischen Mög- im Wohnzimmer ... Nun sind wir am Kern des Themas! Dort, wo es weh tut und wo wir
lichkeiten, hat nicht nur Demokratisierung und Mittelklasse gefördert, sondern auch eine mit uns selber, miteinander und mit unseren AuftraggeberInnen streiten sollten: Lass uns
Fortschrittsästhetik, von der wir heute noch zutiefst geprägt sind. Augen zu: Denk an ein die fünf Merkmale der Ästhetik mit weniger Verbrauch anschauen!
modernes Haus! Es ist vermutlich weiß. Hat ein Flachdach, ist schlicht und geradlinig
aus Beton, Stahl, Glas und Stein. Materialien aus allen Regionen der Welt kommen in I. Aufbau vor Abbau
einem Ort zusammen. Es bietet die unbegrenzte Freiheit des Individuums, symbolisiert
durch schwellenlose Übergänge, horizontale und vertikale Raumverbindungen, großflä- Das erste Gestaltungsmerkmal ist das Aufbauprinzip. Es geht darum, Zerstörung beim
chige Glasschiebetüren und Fenster. Komplizierte technische Lösungen, sei es der Spül- Gestalten zu vermeiden oder zumindest zu verringern. Den Blick auf Funktionsprinzipi-
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kasten am WC oder Kunstlicht, alles ist hinter Gipswänden und Decken versteckt, um en für skulpturales Arbeiten, wie der Bildhauer Willy Ørskov (1920–1990) es formuliert
den Eindruck der Klarheit und Grenzenlosigkeit zu verstärken. Bauhaus und Co. hat die hat, können wir auf Innenarchitektur übertragen. Er beschreibt aufbauende und abbau-
Welt buchstäblich mitgestaltet, und der Minimalismus der 1990er- und Nullerjahre baut ende Prinzipien. Aufbau ist Stapeln, Reihen, Tragen oder Flechten. Abbauende Prinzipien
bis heute auf den Gedanken auf. Wir können die entstandenen Räume genießen, wir sol- dagegen sind Zerschreddern, Bohren, Zerschneiden, Auflösen, Zerschmelzen, Durchbre-
len sie aber in dieser Form nicht weiter so bauen oder als zukunftsgerecht schönreden. chen. Das Ziel, Zerstörung zu vermeiden, unterstützen wir alle. Nur in der Praxis sind der
Umbau und die Einrichtung einer bestehenden Wohnung erst einmal mit Zerstörung ver-
Ästhetik: sinnlich, emotional und semantisch bunden. Es hilft, wenn wir einerseits systematisch das Vorgefundene – seien es Möbel oder
Räume – belassen und andererseits nach aufbauenden Prinzipien systematisch arbeiten,
Betrachten wir unsere Einschätzung von Ästhetik – gängig gesagt unsere Vorstellung von zum Beispiel durch Rückbaubarkeit. Ein schönes Prinzip ist, im Bestand am Anfang nichts
Schönheit. Der ästhetische Dreiklang ist hilfreich, wenn wir über ästhetische Erfahrun- wegzuwerfen, sondern alles in der Wohnung zu lagern und in dem Prozess gemeinsam
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gen sprechen. Wir betrachten einerseits die sinnliche Qualität der Dinge, anderseits die mit der Bauherrschaft zu überlegen, wo es vor Ort wieder zum Einsatz kommen könnte.
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Emotionen, die dabei hervorgerufen werden. Als Drittes, und das ist hier besonders in- Die Zeit, eine Wertschätzung des Bestands zu formulieren und zu dokumentieren, lässt
teressant, betrachten wir die Semantik der Dinge, also die Bedeutung und das Wissen den Gedanken reifen und macht Lust, nicht alles zu zerstören, indem man es neu macht.
über die ästhetische Erfahrung. Unser Wissen über die Arbeitsbedingungen der Men-
schen in fernen Ländern, die das sonst so „schöne“ Material gewonnen und verarbeitet II. Masse
haben, oder die langen Schwertransportwege, beeinflussen auch eine ästhetische Erfah-
rung und damit auch, was wir begehrlich finden. Innenarchitektur wird politischer und Wir bekommen oft ein unerwartetes Geschenk, wenn wir mit bestehenden Bauten,
stellt unvermeidbar die ethische Frage, die aktuell global auf allen Ebenen verhandelt Räumen oder Bauteilen arbeiten: die Masse. Ein Wirkmittel, das aktuell aus Gründen
wird: Wer hat das Recht, die globalen Ressourcen auszuschöpfen, um zum Beispiel sei- des Kosten- und Ressourcenschutzes keine guten Voraussetzungen hat. Mit Bestand wird
nen persönlichen Komfort, Sicherheit und ästhetisches Wohlbefinden auf Kosten der Ver- die Schwere und die Körperhaftigkeit wieder zu einem legitimen, gestalterischen Mittel:
fügbarkeit für Andere zu erhöhen? Diese Metaebene wird auch in der Innenarchitektur Opulente Marmorteile, dicke Bretter, kräftige Sanitärelemente in dunklen Farben und
in der täglichen Praxis verhandelt: Der Austausch von gut funktionierenden Materialien, schwere Möbel aus vergangenen Epochen haben eine neue Aktualität, einfach weil sie
Bauteilen und Einbauten erfolgt – nur weil sie aktuell nicht als schön empfunden werden. da und bereits gebaut sind. Im Gebäudemaßstab findet dasselbe statt: Ausgeschnittene
Die zehn Jahre jungen Kunststofffenster mit aufgeklebten Sprossen, die Büroeinrichtung Betonbalken von Bestandsbauten werden zu Fassadenelementen, und überdimensionier-
aus den 1970er-Jahren, der graue Teppichboden im Flur! Die funktionierende rustikale te Flügel von Windmühlen tauchen an der Fassade als Sonnenschutz auf.
AIT 3.2025 • 103