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WOHNEN • LIVING
DAR EL FARINA
IN MARRAKESCH
Entwurf • Design Leopold Banchini Architects, CH-Lancy
Wie viel ist genug? Was der Ort an Geschichte, Kunst, Handwerk, Tra-
dition und Landschaft, nicht zuletzt auch an Magie und Atmosphäre
mitbringt, ist für Leopold Banchini Architects immer mehr als genug.
Der Raum entsteht aus der DNA des Ortes und im Arbeiten mit den
Ressourcen, die man hat, menschlicher wie materieller Art. Wenig ist
dann doch mehr, als man denkt. Und am Ende ein fantastisches Haus.
von • by Daniela Keck, Stuttgart
D ie Haouz-Ebene, zwischen Marrakesch und dem Hohen Atlas gelegen, wird schon
über Jahrtausende durch ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem kultiviert. Dar El
Farina - auf Arabisch „Haus des Mehls“ - ist eine Anspielung auf die landwirtschaftliche
Tradition der Region, insbesondere auf den Anbau von Weizen und Gerste. Zwei Versor-
gungssysteme kreuzen sich genau an diesem Ort, der „Mesref“, ein oberflächlicher Kanal
zur landwirtschaftlichen Bewässerung, und die „Khetara“, ein unterirdisches Galeriesys-
tem, das von der Almoraviden-Dynastie im 11. Jahrhundert entwickelt wurde, um Grund-
wasser durch die Wüste nach Marrakesch zu transportieren. Das Haus vereinigt zwei
räumliche Dimensionen in sich. Die Linearität der Bewässerungsysteme und die Fokus-
sierung auf ein intimes, geschütztes Innen. Linie und Punkt. Ein lineares Patio-Haus –
vielleicht ein oder besser: der neue Archetyp des Wohnens. Zwei massive Wände aus
Stampflehm bilden das Rückgrat des Entwurfs und umschließen in einer rhythmischen
Abfolge Zimmer, Patios und Wasserbecken. Die erhabenen Oberlichtvolumen schützen
vor der intensiven marokkanischen Sonne und spiegeln sich in ihrem innenräumlichen
Raum-Zwilling. Alles ist im Fluss, große Schwenktüren rhythmisieren den Raum, taktvoll
und intim reihen sich die archaischen Volumen aneinander. Faszinierend, wie Banchini
Architects verschiedene Bedeutungs- und Handlungsebenen überlagert und verschränkt –
Architektur wird hier als Form sozialen gemeinschaftlichen Handelns und Bauens ver-
standen, die Expertise und Erfahrung der örtlichen ArchitektInnen und HandwerkerInnen
wird wertgeschätzt und ist spürbarer Teil des „Gesamtkunstwerkes“. Dabei sind die vier
Elemente – Feuer, Wasser, Erde, Luft – existenzieller Teil des Dar El Farina, eine bauliche
Hommage auf die Magie des Universums und des „Genug“, der Suffizienz. Das netzunab-
hängige Haus nutzt die Sonne, den Boden und das vor Ort verfügbare Wasser, um völlig
autark zu sein. Und macht eine neue Welt auf. Betritt man das Haus durch die einzige
Öffnung auf der einen Seite, offenbart sich auf der anderen Seite durch mehrere Öffnun-
gen der Garten Eden, auch Paradies genannt.
098 • AIT 3.2025