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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS THEORIE • THEORY
ein räumliches Klangerlebnis? Um dies zu verstehen, müssen wir uns zuerst einmal vor Augen führen, was
Räumlichkeit bedeutet. Grundsätzlich sprechen wir dann von einem räumlichen Klangerlebnis, wenn ein oder
mehrere Klän ge eine gewisse „Breite“ oder „Tiefe“ im physischen Raum besitzen. Nicht räumlich ist ein
Klangerlebnis nur dann, wenn ein Klang punktförmig ist, das heißt, wenn er keine Ausdehnung hat, sich nicht
bewegt und sich nicht in einem (stark wahrnehmbaren) Raum befindet. Ein Beispiel dafür wäre das einsame
Ticken einer Uhr nachts in einer frisch bezogenen Wohnung noch voller Kartonkisten. Eine erste Kategorie räum-
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licher Klangerlebnisse wurde vom Klangarchitekten Bernhard Leitner minutiös untersucht. Diese entstehen,
sobald wir bewegte Klänge, mehrere Klänge gleichzeitig oder in kurzem Abstand aus unterschiedlichen Richtungen
und Distan zen hören. In diesem Moment entsteht ein flüchtiger Raum, definiert durch seine einzelnen Klänge – als
würde man ein Zelt aufspannen, aufgehängt an den Eckpunkten dieser Klänge. Stellen wir uns eine idyllische
Situation in einer Waldlichtung vor: Wir hören das Singen verschiedener Vögel über uns, das Plätschern eines
Baches hinter uns, ein leises, uns umgebendes Rauschen des Windes in den Blättern um uns herum und das Zirpen
Fotos: Silvia Boschiero der Grillen neben uns. Jedes einzelne Geräusch kommt aus einer ganz bestimmten Richtung, zum Teil statisch (wie
der Bach), zum Teil dynamisch (wie der Wind) oder auch aus einer Vielzahl verschiedener Richtungen und
ein Klangereignis in einem architektonisch konstruierten Raum stattfindet. In diesem Fall hören wir nicht bloß das
Museum of the Future von • by Casson Mann mit Idee & Klang Distanzen gleichzeitig (wie die Grillen). Ein räumliches Klangerlebnis einer zweiten Kategorie entsteht dann, wenn
Klangereignis an sich, sondern auch dessen Reflexionen aus den verschiedensten Richtungen und mit zeitlicher
Verzögerung. Dabei entsteht nicht ein Klangraum aus einzelnen Punkten, sondern ein Punkt mit einer gewissen
räumlichen (und zeitlichen) Aus dehnung.
Außerordentlich räumliches Klangerlebnis
Ein Beispiel, bei dem beide Phänomene (mehrere Punktquellen und Raumklang) zusammenkommen, ist das klas-
sische Orchester. Zweifelsohne empfinden die meisten Menschen ein sinfonisches Konzerterlebnis als sehr räumlich.
Weshalb dem so ist, sei hier kurz erklärt: In einem Orchester befindet sich jeder Musiker an einer bestimmten Posi -
tion im Raum. Jeder Musiker spielt seine spezifische Stimme auf seinem Instrument. Die einzelnen Instrumente
unterscheiden sich nicht bloß in Tonlage und Klangfarbe, sondern auch in ihrer Abstrahlcharakteristik . So ist die
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Trompete mit eher scharfem Klang direkt nach vorne gerichtet, während das Horn seine eher weich klingenden Töne
diffus nach hinten abstrahlt. Daher erreicht der Klang der Trompete den Konzertbesucher vorwiegend direkt aus der
Richtung des Instruments, der Klang des Horns hingegen ausschließlich über Reflexionen an der Rückwand des Kon -
zertsaals. Das Zusammentreffen von Klängen aus verschiedenen Richtungen mit verschiedenen Klang farben und
Diffu sionsgraden am Ohr des Konzertbesuchers ergibt das außerordentlich räumliche Klangerlebnis. Spielen wir
eine Aufnahme des gleichen Musikstücks über eine Stereo-Anlage ab, so ist das Klangerlebnis viel we niger räumlich:
First World War Galleries von • by Atelier Brückner mit Klang & Raum
In dieser Situation trifft der Schall nämlich nur aus genau zwei Punkten, den beiden Lautsprechern, auf unser Ohr.
Die Aufnahme verschafft uns zwar einen Einblick in den klanglichen Charakter des Konzertsaals, wir bleiben jedoch
Beobachter dieses Raumes und können ihn nicht direkt erfahren. Dies ist vergleichbar mit einer fotogra fischen Auf -
nahme: Die darauf abgebildete Räumlichkeit ist zwar nachvollziehbar, die Leinwand bleibt jedoch trotzdem zweidi-
mensional (flach). Für eine aktive, auditive Bespielung eines Raumes gibt es heute verschiedenste sogenannte 3-D-
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Audiotechnologien wie Wellenfeldsynthese , Dolby Atmos oder Auro-3D . Allen gemeinsam ist, dass sie die klan-
gliche Räum lichkeit abbilden beziehungsweise simulieren. Der Raum, den wir dabei hören, ist also eine reine
Projektion und völlig entkoppelt vom architektonischen Raum, in dem der Hörer sich tatsächlich befindet. Dies ist
nicht weiter er staunlich, da die erwähnten Technologien als Standards entwickelt wurden, die für beliebige Räume
(z. B. Kino säle) adaptiert werden können. Das Ziel dabei ist, dass in jedem Raum und an jedem Ort innerhalb des
Raumes das Gleiche erlebt wird. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das Akusmatische Raum-Orchestrierungs-
System (kurz AROS). Es wird individuell für den jeweiligen Raum konstituiert – der Zuhörer, der sich durch den
Raum bewegt, er lebt dabei an jedem Punkt des Raumes eine andere Perspektive auf das klangliche Geschehen.
Spiel mir das Lied vom Raum
Man kann sich das Gan ze als eine Art ‚Lautsprecher-Orchester’ vorstellen, denn ähnlich wie beim Orchester kommt
jeder Klang aus einem spezifisch dafür vorgesehenen Lautsprecher. Diese sind über den gesamten Raum verteilt
(Decke, Wände, Boden, Objekte im Raum). Sie sollten wenn möglich von unterschiedlicher Bauart sein, genauso wie
im Orchester auch jedes Instrument bezüglich Klangfarbe und Abstrahlcharakteristik seine Eigenheiten besitzt. Die
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Grundidee dazu, wie auch der Begriff der Akusmatik , gehen zurück auf den Komponisten François Bayle . Die
Architektur und somit der akustische Raum wird dabei grundlegend in die Komposition mit einbezogen – der Raum
wird gewissermaßen zum Instrument, auf dem die Musik spielt. Der Lautsprecher verhält sich zum Raum wie die
Saite zum Korpus eines Instruments: Der Raum wird durch die Lautsprecher gezielt klanglich angeregt. Einerseits
indem verschiedene Klangräume und Klangstrukturen in verschiedenen Bereichen und Dimensionen des Raumes
positioniert werden; andererseits wird aber auch der Raum an sich, mit all seinen akustischen Eigenschaften und
Besonder heiten, voll ausgereizt. Beispiels weise können mit bestimmten Frequenzen, die genau den Raumpro por -
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tionen ent spre chen, sogenannte stehende Wellen erzeugt werden. Die Klänge scheinen dadurch förmlich im Raum
zu schwe ben und mit ihm und den Besuchern zu interagieren. Diese „Raumatmosphären“ können auch sehr subtil,
Fotos: Richard Ash ja sogar subliminal sein, sodass sie bloß unbewusst wahrnehmbar sind. Dabei wird der Besucher nie von Klängen
bedrängt oder abgelenkt. Vielmehr verweben sich diese ganz selbstverständlich mit der Architektur, den Objekten,
dem Licht und der Szenografie zu einem Ganzen. (Fußnoten siehe Register Seite 152)
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