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Benjamin Lebert 20. Januar 1999: Der junge Schriftsteller („Crazy“) am Schreibtisch  Luis Trenker Der außergewöhnlich aktive Bergsteiger, Schauspieler, Schriftsteller und
                seines Kinderzimmers in der elterlichen Wohnung in München.   Architekt kurz vor seinem 90. Geburtstag im Sommer 1982 in seiner Villa in Bozen.




                sich alle Arbeit, die früher allein dem Büro vorbehalten war. Nicht, dass der Ort ganz ver-  das elegante „Zylinderbüro“ kehrt zurück, der hübsche Sekretär, auf dem sich Notebook
                waisen könnte, aber er kann jetzt öfter mal ge lüftet werden, sogar die Reinemachefrau  und Manuskripte vor Verlassen des Raums mit einer herunterklappbaren runden Schale
                hat gelegentlich Zutritt. Der Kern des Prestiges, das der Schreibtisch genoss, war stets,  oder einem Rollladen hinreichend schützen lassen. Ganz sicher wird der Raum bleiben,
                dass an ihm das Wichtige geschah: Denken und Aufschreiben. Wenn wir aber heute in  von dem wir sagen können: Hier bin ich allein, hier werde ich nicht beo bachtet, hier
                der Bahn Termine zu- oder auch absagen, ein paar Seiten unseres Essays schreiben oder  herrscht die Dosis Einsamkeit und Freiheit, die ich brauche. Ein Nest wird bleiben, wie es
                auch „nur“ Ideen zu einer Firmengründung notieren, dann kann uns die Frage kommen,  jeder Vogel braucht, auch wenn er das meiste unterwegs erledigt und den Wurm ganz
                ob früher das Entscheidende denn wirklich an dem ehrwürdigen Schreibtisch passiert  woanders fängt.  Und darin wird weiterhin ein Schreibtisch sein, vielleicht eine kunstvolle
                ist, den wir vom Groß vater geerbt haben. Die Antwort ist nein. Der Schreib tisch war zum  Tischlerarbeit,  vielleicht nur ein aufgebocktes Türblatt mit drei Ablage schalen. Jedenfalls
                Aufschreiben nötig, zum Formu lieren. Das Wichtigste fiel uns zu allen Zeiten vor allem  wird auch in hundert Jahren noch gelten: Andere dürfen dort „nichtz hinlegen“.
                im Bus, beim Bier, im Bad oder im Bett ein – Albert Einstein hat das bereits vor fast 100
                Jahren so beschrieben. Wie viele Dichter haben im Café das Beste und Beständigste ver-
                fasst, wie viel nie zuvor Erdachtes nahm auf dem Pferderücken oder beim Wandern O  n my sixth birthday, my mother gave me the sawn off top section of a kitchen cabi-
                                                                                  net as a present and said: “Now you have your own desk!” Judged from my eye
                Gestalt an. Über den Schreibtisch wanderte so etwas dann auch, aber eben später. Heute  level, this small box was a lectern. At the top it had a horizontal worktop, on which I
                gibt es die Möglich keit, den Ort der Anregung und den des Auf schrei bens nahezu zu  could perfectly scribble and draw; I already knew the majority of letters, I even managed
                vereinen. Das Gehirn braucht ohnehin mehr Bilder, als an der Wand eines Büros Platz  to write a few words. At the front, the piece of furniture had a hinged door and below,
                finden können. Und es ist kein kultureller Einbruch, wenn wir schon im Freien alles auf-  two drawers right on the floor, where I hid my belongings, for example shining chestnuts,
                schreiben können, per Tastatur oder Hand, einscannbar, ausdruckbar.   which, however, did not shine for very long, or particularly colourful or patterned stones.
                                                                              The cleaning woman came every Monday. She collected all the toys, picture books,
                Was bleibt?                                                   shoes lying around and put them on my writing box to be able to wipe the floor. This
                                                                              was the mess I found when I had finally been allowed back in from the garden. Neither
                Trotzdem: Zum Museum werden das Arbeitszimmer des Bürgers und sein stolzer Schreib -  my desk nor I felt respected. I complained. She did not listen. Something had to be done!
                tisch nicht werden. Zu tief, geradezu anthropologisch verankert ist das Bedür fnis, sich  Before the following Monday, I scratched an angry message into the writing surface with
                zurückzuziehen. Etwa zu Gegenständen, die um ihrer Schönheit willen geliebt werden  a pencil: “Pleas don’t change anithing. Got that?” The writing was force ful, the letters
                und die wir – wichtig – ganz für uns allein haben. Der Mensch strebt von Kindes bei nen an  were big, and so I only made it to the “Got” and had to add the “that” in small letters
                nach mehr Selbständigkeit, spätestens in der Pubertät kämpft er erbittert darum und ver -  underneath. Well, even a better graphic design would have probably not helped me to
                teidigt jeden Zentimeter des gewonnenen Terrains. Wird sich in unserer Zeit viel daran  get through to the cleaning woman: without any sign of “Got that” she continued to
                ändern? Einiges, aber nicht alles. Eines wird bleiben: die Liebe zur selbst geschaffenen  misuse my property. However, I had discovered one of the most important reasons for
                Ordnung und zu dem Vertrauten, in dem wir Zuflucht suchen, um dann wieder auf -  writing – the defence against impudence, the first of which was the greatest of them all:
                zubrechen und auf die Denkanstöße und Zumutungen aus der Außen welt zu ant worten.  not to be regarded. I note these lines on the – for the time being – last, the 21st desk of
                Vielleicht ist der mächtige alte Schreibtisch des arbeitswütigen Berserkers im Gehen und  my life. Before that, there were inherited, home-made and purchased specimens as well



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