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BÜRO UND VERWALTUNG  •  OFFICE BUILDINGS THEORIE • THEORY

               AM SCHREIBTISCH










               Der Fotograf Konrad Rufus Müller und der Schriftsteller Sten Nadolny porträtieren das Arbeitsgerät samt prominenter Besitzer
               Photographer Konrad Rufus Müller and writer Sten Nadolny portray the work tool together with prominent owners














































               Hannelore Hoger Die Schauspielerin an dem improvisierten Schreibtisch ihrer Woh -  Anwar as-Sadat Der ägyptische Präsident im Sommer 1981 kurz vor seiner Ermordung
               nung in Hamburg am 6. August 2014.                            im Sinai – für seine Enkel spricht er an einem Tisch den Koran auf Tonband.




               Der  Schreibtisch ist das  wahrscheinlich prestigeträchtigste aller A  n meinem sechsten Geburtstag schenkte mir meine Mutter das abgesägte Oberteil
                                                                                eines betagten Küchenbuffets und sagte: „Jetzt hast du auch einen Schreibtisch!“
               Arbeitsgeräte. Zugleich verrät er – vermeintlich? – eine Menge über  Für meine Augenhöhe war das Kästchen ein Stehpult. Es bot oben eine waagerechte
               seinen Besitzer. Unwillkürlich wird vom Anblick des Schreibtischs  Arbeitsfläche, auf der ich gut kritzeln und malen konnte; ich kannte schon die meisten
               auf bestimmte Charakterzüge geschlossen. Für Sie haben wir eine  Buchstaben, es gelangen mir sogar Wörter. Vorn hatte das Möbel eine Tür zum Auf -
               Auswahl von Prominenten an ihren mitunter recht unkonventio-  klappen und unter ihr zu ebener Erde zwei Schubladen, in denen ich Habseligkeiten ver-
               nellen Arbeitsplätzen zusammengestellt – porträtiert wurden sie  barg, glänzende Kastanien zum Beispiel, die allerdings nicht sehr lange glänzten, oder
               vom renommierten Fotografen Konrad Rufus Müller.  Dazu weiß   besonders bunte oder gemusterte Steine. Der Teddybär kam hier nicht hinein, er saß auf
               Sten Nadolny allerlei Amüsantes über Schreibtische zu berichten.  dem Fensterbrett und behielt den Überblick. Immer montags kam die Reine machefrau.
                                                                             Sie sammelte alles auf, was an Spielzeug, Bilderbüchern, Schuhen herumlag, und legte
               The desk probably is the most prestigious of all work tools. At  es auf meine Schreibkiste, um den Boden zu wischen. So fand ich die Bescherung vor,
               the same time, it – supposedly? – reveals a lot about its owner.  wenn ich aus dem Garten  wieder herein  durfte. Weder mein Schreib tisch noch ich
               One automatically infers certain character traits from the appea-  fühlten uns respektiert. Ich beklagte mich. Sie hörte nicht zu. Es musste etwas gesche -
               rance  of  a  desk.  We  have  compiled  a  selection  of  prominent  hen! Ich kratzte vor dem nächsten Montag mit Bleistift eine zornige Bot schaft in die
               people at their sometimes quite unconventional workplaces –   Schreibfläche: „Bitte nichtz hinlegen. Ferstanden?“ Die Schrift  war druckvoll, die
               they were portrayed by renowned photographer Konrad Rufus     Buchstaben zu groß, ich kam nur bis „Fersta“, das „nden“ musste ich klein darunter
               Müller.  In  addition  to the  photographs, Sten Nadolny tells va -  schreiben. Die Putzfrau hätte ich wohl auch mit einem besseren Grafikdesign nicht erre-
               rious amusing facts about desks.                              icht: Ohne jedes Anzeichen von „Fersta“ missbrauchte sie mein Eigentum weiter. Aber
                                                                             ich hatte einen der wichtigsten Gründe für das Schreiben entdeckt – die Verteidigung



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