Page 134 - AIT0416_E-Paper
P. 134
BÜRO UND VERWALTUNG • OFFICE BUILDINGS THEORIE • THEORY
Wladimir Putin Der russische Präsident kurz vor Mitternacht am Schreibtisch seines Klaus Staeck Der Präsident der Akademie der Künste in Berlin am 23. August 2014
Büros im Kreml am 3. Oktober 2002. am Tisch seines „Büroateliers“ in Heidelberg.
ten Merkmalen nichts zu tun, denn oft ist ein lee rer Tisch deshalb leer, weil sehr viel, tionären Köpfen. Diese setzten sich aber schließlich durch, denn ihre Schreib tische waren
und ein voller voll, weil sehr wenig gearbeitet wird. Psychologen sollen herausgefunden in der Überzahl. Etwa um diese Zeit entstand die Fotografie. Immer mehr Mütter blickten
haben, dass volle Schreibtische – wohl einfach durch ihren Anblick – die Kreativität auf Fotos ihrer Söhne im Büro und vergossen Freudentränen. „Er hat es zu etwas
stärken. Dann wäre in dieser Disziplin eindeutig Klaus Staeck der Mister Universum. Wie gebracht. Seht nur seinen Schreibtisch!“ An Schreibpulten und -tischen und Sekretären
ist das Verhältnis des Schreibtisches zur Welt? Es gibt, ähnlich wie bei den zwei Seiten wurden für die Menschheit mehr „Durchbrüche“ erzielt als in den Schlach ten, denen
des Mondes, die erdzugewandte und die erdabgewandte Sorte. Von der Ersteren blickt sich dieses Wort verdankt: Durch Papiere, durch Texte, die ihren Lesern wahr und richtig
der Mensch, vielleicht ein Chef, in den Raum hinein und in die Augen anderer Menschen, vorkamen, und oft ging es in ihnen um Freiheit – Freiheit vom Alten, Freiheit zum Neuen,
die auf sein Wort warten. Bei der zweiten sitzt der Schreiber mit dem Rücken zum Freiheit von all dem, was keine Freude mehr machte. Einer der ältesten Schreibtisch -
Besucher und blickt zur Wand. Sie kann kahl sein wie bei Vicki Baum, als sie „Menschen kriege ist der zwischen Macht und Geist. Er verläuft kompliziert. Die Kampflinien sind
im Hotel“ schrieb. Sie kann aber auch ein Aussichtsfenster enthalten, das massiv von der unklar, man verliert leicht den Überblick. Verwirren kann etwa, dass Mächtige nicht
Arbeit ablenkt. In repräsentativen Büros gibt es oft große Fenster in einer Höhe, die einen immer geistlos und Geistesgrößen nicht immer ohne Machtwillen sind. Manchmal üben
prachtvollen Ausblick erlaubt. Aber der Chef schaut nicht hinaus – dazu müsste er den die Letztgenannten sogar wirklich Macht aus – sie können fesseln, und manchmal wer-
Kopf wenden. Er schaut in den Raum, und die Besucher sind es, die zugleich auf ihn und den sie noch gefährlicher. Brillante Wortgewalt kann zum Anwalt der Unterdrückung
das Zielgebiet blicken: die große Stadt, das volle Leben, das größere Morgen. werden, erfinderische Intelligenz böse Entwürfe noch böser machen. Geist ist nicht zu
allen Zeiten eine von Ethik geleitete Haltung, andererseits Moral nicht immer Geist:
Werkbänke der Macht und des Geistes Gerade sie begegnet uns gelegentlich mit massiver Geist losigkeit. Der Schreibtisch selbst,
sei er Rokoko, Empire, viktorianisch, wilhelminisch oder im Stil des Bauhauses, kann
Die Welt, die wir heute haben, und fast alles, was uns in ihr noch blühen wird, ist auf nichts dafür. Er mag Brutstatt des Ehrgeizes, Garten der Weisheit, Festung der Belang -
Schreibtischen gewachsen. Freilich dachten die wenigsten, die da saßen und schrie ben, losigkeit sein, ganz sicher ist er der angestammte Ort für den frischen Blick auf Wahr -
an die Zukunft des Großen und Ganzen, die meisten doch eher an sich und das eigene heiten und beherzten Aufbruch. Vielleicht müssen wir aber schon bald sagen: Er war das
Fortkommen – dies nämlich tut der Mensch am gründlichsten, darin erlahmt er nie, egal alles, denn das gute Stück hat ausgedient. Notebook und Tablet sind nahezu alles in
ob er Dienste leistet, Produkte ausdenkt, für Konzepte oder Parteien wirbt. Für sich selbst einem, sie sind zwar auch Schreibfläche, aber noch viel mehr. Sie können für uns alles
wirbt er auf irgendeine Weise immer. Für die Suche nach Glück und Erfolg ist der abbilden, jede Form annehmen, die wir im Moment brauchen: Briefkasten, Landkarte,
Schreibtisch Dreh- und Angelpunkt. Seit vielen Generationen ist er das, ein Möbel von Lexikon, Zeitung, Buch, Bahnschalter, Antiquariat, Jobbörse, Kunstgalerie, Kaufhaus –
riesigem Prestige. Das schlichteste Stück im Jugendzimmer ist verbündet mit all den vielleicht fließt in Kürze, wenn wir sie zur Kanne machen und neigen, ein passabler
anderen in der Geschichte, auf denen Theorien, Erfindungen, Hymnen und Anklagen Cappuccino heraus – man arbeitet daran. Notebook, Smartphone und Tablet sind über-
entstanden sind, von denen aus regiert oder am Sturz von Regierungen, ja ganzer allhin mitzunehmen: in den Wald, in die Sonne, aufs Boot. Ob Berg oder Bad, das Ding
Systeme gearbeitet wurde. Die Schlachten der Geschichte wurden gewiss oft mit Bajo - bleibt greifbar, ohne nennenswert zu stören. Seit der Computer mit Internet zugang nicht
netten und Geschützen ausgetragen, immer aber mit Tinte gegen Tinte, von Schreibtisch mehr gebieterisch im Arbeitszimmer steht und man von überallher zu ihm eilen muss,
zu Schreibtisch. Lange genug war die Demokratie nur ein heißer Gedanke in revolu- hat sich viel verändert: Smartphone und Tablet eilen fast überallhin mit! Damit verändert
134 • AIT 4.2016