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BÜRO UND VERWALTUNG  •  OFFICE BUILDINGS THEORIE • THEORY















































               Wladimir Putin Der russische Präsident kurz vor Mitternacht am Schreibtisch seines  Klaus Staeck Der Präsident der Akademie der Künste in Berlin am 23. August 2014
               Büros im Kreml am 3. Oktober 2002.                            am Tisch seines „Büroateliers“ in Heidelberg.




               ten Merkmalen nichts zu tun, denn oft ist ein lee rer Tisch deshalb leer, weil sehr viel,  tionären Köpfen. Diese setzten sich aber schließlich durch, denn ihre Schreib tische waren
               und ein voller voll, weil sehr wenig gearbeitet wird. Psychologen sollen herausgefunden  in der Überzahl. Etwa um diese Zeit entstand die Fotografie. Immer mehr Mütter blickten
               haben, dass volle Schreibtische – wohl einfach durch ihren Anblick – die Kreativität  auf Fotos ihrer Söhne im Büro und  vergossen Freudentränen. „Er hat es zu etwas
               stärken. Dann wäre in dieser Disziplin eindeutig Klaus Staeck der Mister Universum. Wie  gebracht. Seht nur seinen Schreibtisch!“ An Schreibpulten und -tischen und Sekretären
               ist das Verhältnis des Schreibtisches zur Welt? Es gibt, ähnlich wie bei den zwei Seiten  wurden für die Menschheit mehr „Durchbrüche“ erzielt als in den Schlach ten, denen
               des Mondes, die erdzugewandte und die erdabgewandte Sorte. Von der Ersteren blickt  sich dieses Wort verdankt: Durch Papiere, durch Texte, die ihren Lesern wahr und richtig
               der Mensch, vielleicht ein Chef, in den Raum hinein und in die Augen anderer Menschen,  vorkamen, und oft ging es in ihnen um Freiheit – Freiheit vom Alten, Freiheit zum Neuen,
               die auf sein Wort warten. Bei der zweiten sitzt der Schreiber mit dem Rücken zum  Freiheit von all dem, was keine Freude mehr machte. Einer der ältesten Schreibtisch -
               Besucher und blickt zur Wand. Sie kann kahl sein wie bei Vicki Baum, als sie „Menschen  kriege ist der zwischen Macht und Geist. Er verläuft kompliziert. Die Kampflinien sind
               im Hotel“ schrieb. Sie kann aber auch ein Aussichtsfenster enthalten, das massiv von der  unklar, man verliert leicht den Überblick. Verwirren kann etwa, dass Mächtige nicht
               Arbeit ablenkt. In repräsentativen Büros gibt es oft große Fenster in einer Höhe, die einen  immer geistlos und Geistesgrößen nicht immer ohne Machtwillen sind. Manchmal üben
               prachtvollen Ausblick erlaubt. Aber der Chef schaut nicht hinaus – dazu müsste er den  die Letztgenannten sogar wirklich Macht aus – sie können fesseln, und manchmal wer-
               Kopf wenden. Er schaut in den Raum, und die Besucher sind es, die zugleich auf ihn und  den sie noch gefährlicher. Brillante Wortgewalt kann zum Anwalt der Unterdrückung
               das Zielgebiet blicken: die große Stadt, das volle Leben, das größere Morgen.  werden, erfinderische Intelligenz böse Entwürfe noch böser machen. Geist ist nicht zu
                                                                             allen  Zeiten eine  von Ethik geleitete Haltung, andererseits Moral nicht immer Geist:
               Werkbänke der Macht und des Geistes                           Gerade sie begegnet uns gelegentlich mit massiver Geist losigkeit. Der Schreibtisch selbst,
                                                                             sei er Rokoko, Empire, viktorianisch, wilhelminisch oder im Stil des Bauhauses, kann
               Die Welt, die wir heute haben, und fast alles, was uns in ihr noch blühen wird, ist auf  nichts dafür. Er mag Brutstatt des Ehrgeizes, Garten der Weisheit, Festung der Belang -
               Schreibtischen gewachsen. Freilich dachten die wenigsten, die da saßen und schrie ben,  losigkeit sein, ganz sicher ist er der angestammte Ort für den frischen Blick auf Wahr -
               an die Zukunft des Großen und Ganzen, die meisten doch eher an sich und das eigene  heiten und beherzten Aufbruch. Vielleicht müssen wir aber schon bald sagen: Er war das
               Fortkommen – dies nämlich tut der Mensch am gründlichsten, darin erlahmt er nie, egal  alles, denn das gute Stück hat ausgedient. Notebook und Tablet sind nahezu alles in
               ob er Dienste leistet, Produkte ausdenkt, für Konzepte oder Parteien wirbt. Für sich selbst  einem, sie sind zwar auch Schreibfläche, aber noch viel mehr. Sie können für uns alles
               wirbt  er  auf  irgendeine  Weise  immer.  Für  die  Suche  nach  Glück  und  Erfolg  ist  der  abbilden, jede Form annehmen, die wir im Moment brauchen: Briefkasten, Landkarte,
               Schreibtisch Dreh- und Angelpunkt. Seit vielen Generationen ist er das, ein Möbel von  Lexikon, Zeitung, Buch, Bahnschalter, Antiquariat, Jobbörse, Kunstgalerie, Kaufhaus –
               riesigem Prestige. Das schlichteste Stück im Jugendzimmer ist verbündet mit all den  vielleicht fließt in Kürze, wenn wir sie zur Kanne machen und neigen, ein passabler
               anderen in der Geschichte, auf denen Theorien, Erfindungen, Hymnen und Anklagen  Cappuccino heraus – man arbeitet daran. Notebook, Smartphone und Tablet sind über-
               entstanden sind,  von denen aus regiert oder am Sturz  von Regierungen,  ja ganzer  allhin mitzunehmen: in den Wald, in die Sonne, aufs Boot. Ob Berg oder Bad, das Ding
               Systeme gearbeitet wurde. Die Schlachten der Geschichte wurden gewiss oft mit Bajo -  bleibt greifbar, ohne nennenswert zu stören. Seit der Computer mit Internet zugang nicht
               netten und Geschützen ausgetragen, immer aber mit Tinte gegen Tinte, von Schreibtisch  mehr gebieterisch im Arbeitszimmer steht und man von überallher zu ihm eilen muss,
               zu Schreibtisch. Lange genug war die Demokratie nur ein heißer Gedanke in revolu-  hat sich viel verändert: Smartphone und Tablet eilen fast überallhin mit! Damit verändert



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