Page 133 - AIT0416_E-Paper
P. 133

Konrad Rufus Müller                                           Sten Nadolny

                Foto: Martina Gedeck  1940 geboren in Berlin 1962 Aufnahme in die Malklasse von Hans Jaenisch an der Foto: Konrad Rufus Müller  1942 in Zehdenick an der Havel geboren, aufgewachsen in Oberbayern, Studium
                                Hochschule für Bildende Kunst in Berlin seit 1965 als Fotograf tätig bis heute zahl-
                                                                                              der Geschichte und Politologie seit 1982 freier Schriftsteller, veröffentlichte u.a. die
                                                                                              Romane „Die Entdeckung der Langsamkeit“ und „Weitlings Sommerfrische“
                                reiche Buchveröffentlichungen, Magazinbeiträge und Ausstellungen



















































                Jan Weiler 2. März 2015: Der Autor („Maria, ihm schmeckt’s nicht“; „Im Reich der  Joseph Kardinal Ratzinger Der Präfekt der Glaubenskongregation im November 1992
                Pubertiere“) am Schreibtisch seines Hauses in Umbrien.        am Tisch seines Arbeitszimmers, Palazzo del Sant’Uffizio, Vatikan.




                gegen Zumutungen, deren erste gleich die größte von allen war: nicht wahrgenommen  men zu müssen und meinte, bei angehenden Literaten sei Schreibtischraub, ebenso wie
                zu werden. Ein paar Monate später ging ich zur Schule, an der mich eines sofort irritierte:  bei Hungernden der Mundraub, kein schwe res Verbrechen. Unter den Schreibstuben
                Das, worauf ich dort schreiben sollte, hieß „Bank“.           dieser Welt gibt es Festungen, Spielwiesen, Schmuckkästchen, Räuberhöhlen, Ber -
                                                                              mudadreiecke. Es gibt konformistische und non konformistische, herbstliche und früh-
                Schreibtische meines Lebens – eine kleine Schreibtischkunde   lingshafte, geliebte und vernachlässigte, asketi sche und sanguini sche, spartanische und
                                                                              athenische – es herrscht ein kaum noch zu überschauender Wildwuchs unterschied -
                Dies notiere ich am vorläufig letzten, dem 21. Schreibtisch meines Lebens. Davor gab es  lichster Büros, und ihr Kern ist ganz zuverlässig immer ein Schreibtisch. Fangen wir mit
                neben den geerbten, selbst gebauten und gekauften Exemplaren auch ein gestoh lenes:  dem Einfachsten an: Es gibt große und kleine Schreib tische. Die großen erhöhen angeb -
                Ich sah als Student im Dachgerümpel des Hauses, in dem ich zur Untermiete wohnte,  lich die Risikobereitschaft ihres Besit zers, vielleicht mindern sie auch nur einfach seine
                einen  arg  ramponierten,  aber  hellen  und  angenehmen  Zwanzigerjahre-Schreibtisch,  Angst, weil er sich von so einer Festung beschützt fühlt. Die kleinen sind meist nicht
                wollte ihn keinesfalls verkommen lassen und konnte ihn vor allem gut gebrauchen. Ich  deshalb klein, weil sie dafür besonders geliebt werden, sondern weil der Platz für einen
                fragte mich durch die Etagen: Es fand sich kein Besitzer. Man mutmaßte, irgendein ehe-  größeren fehlt. Es gibt Schreibtische, auf denen gearbeitet wird, ferner solche, die nur so
                maliger Mieter habe das Möbel hier vergessen. Oder ein Unbe kannter, dem das Haus ein-  aussehen, als würde gearbeitet, es wird aber nur telefoniert. Drittens gibt es Schreib -
                mal gehört habe. Ich nahm mir den Schreibtisch, zog mehrmals mit ihm um, ließ ihn  tische, auf denen ganz bestimmt nicht gearbeitet wird. Hier sind alle Bleistifte frisch
                restaurieren – er wurde ein Freund. Ebenso übrigens wie sein rechtmäßiger Besitzer, der  gespitzt und liegen aufs Peinlichste parallel, egal wann man auf sie schaut. Wenn dann
                Jahrzehnte später bei mir seinen alten Schreibtisch stehen sah und ausrief: „Das gibt es  noch  viele Erinne rungsbilder, Souvenirs, Preise und Statuetten herumstehen, sodass
                doch nicht! Genau so einen Schreibtisch hat man mir 1968 vom Dachboden gemopst!“  Arbeit praktisch gar nicht möglich ist, handelt es sich um einen Vergangenheits- oder
                Peinlich. Aber er war inzwischen wirklich ein Freund und hörte sich mein Geständnis  auch Ruhe stands schreibtisch. Schwerer zu erkennen sind Zukunfts schreibtische, meis-
                schmunzelnd an. Längst hatte er das Möbel abgeschrieben, war froh, es nicht mitneh -  tens sind sie unordentlicher. Ob Schreibtische voll oder leer sind, hat mit den vorerwähn -



                                                                                                                              AIT 4.2016  •  133
   128   129   130   131   132   133   134   135   136   137   138