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Cristobal Palma                                              Pedro Alonso


                                     1974 in Oxford, Großbritannien, geboren 1995-1999 Architekturstudium,  1975 in Santiago,Chile, geboren 1993-2000 Architekturstudium, Santia -
                                     Architectural Association (AA), London seit 2008 freischaffender Archi -  go, Chile 2003-08 Promotion, London seit 2009 Lehraufträ ge AA, Lon -
                                     tek tur fotograf Estudio Palma in San tiago/Chile            don; Universidad Católica, Santiago, Chile; Princeton University, USA








































                Caracol Dos Providencias in Santiago, 1977, von • by Alberto Fernández   Caracol Nacionales in Santiago, 1983, von • by Alejandro Valdebenito  Caracol Alameda in Santiago, 1979 von • by Francisco Domínguez



                detes Museum in Bilbao oder die gepflegte kleine Villa am Canal Grande in Venedig, die  gende Trugschlüsse eingebunden zu werden. Sie widersetzen sich in ihrer Funktion
                das Zuhause von Peggy Guggenheim war – also nicht mehr als kleine Auswüchse der  dem naiven Versuch, eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und allem und je dem zu suchen,
                größeren geopolitischen und ökonomischen Unternehmungen, die in einer weit entfer-  das wir in der Welt als Spirale betrachten – vom Turm zu Babel bis zur Helix Aspersa,
                nten  Wüste  stattfanden und  bis  heute  stattfinden.  Natürlich  bedingen  die  der Gefleckten Weinbergschnecke. In eine typologische Diskus sion können wir nur ein-
                wirtschaftlichen Rationalitäten, denen diese Unternehmungen ge hor chen, dass deren  steigen, wenn wir uns eingestehen, dass sich das rein auf Profitmaximierung ausgelegte
                Formen nicht statisch sind, sondern sich in ständiger Bewegung befinden. Die Atacama-  Pro gramm  der  chilenischen  Schneckengebäude  allen  formalen  Vergleichen  entzieht.
                Wüste ist kein Monument Valley! Blickt man also in das höh len artige Innere etwa der  Denn „Typus“ meint eben nicht nur „Mo dell“, sondern immer auch „Prägung“ und
                Chuquicamata-Mine,  wird man  Zeuge einer seltsamen Ins zenie rung, in der sich  damit einen un sichtbaren, immateriellen Ausdruck. Dieses Verständnis des Begriffes
                Lastwagen wie kleine Ameisen, die ein totes Lebewesen zersetzen, in einer präzisen,  „Typus“ verdanken wir  dem  französischen Archi tek turtheoretiker Quatremère de
                perfekt koordinierten Choreografie bewegen, um so den „Wirts kadaver“, an dem sie  Quincy, der den „Typus“ eben nicht nur als die Imitation idealer Elemente („Modell“)
                sich  als  Parasiten  betätigen,  entweder  zu  vertiefen  (Minen krater)  oder  aufzu häu fen  definierte, sondern eher von einem System von „Re geln“ sprach, die eben auch formale
                (Abraumberg). Tatsächlich sind diese Bewegungen so ästhe tisch und in ihrem Ausmaß  Variatio nen zulassen können. Wir können den Begriff „Typus“ damit als eine Art ver -
                so theatralisch, dass man den gesamten Vorgang nicht als Ingenieurleistung, sondern  dichteter  Beschreibung der Kernelemente eines Gebäudes  übersetzen; als Satz  von
                fast als Kunst bezeichnen könnte. Man denke in diesem Zusammenhang an den Land-  „Regeln“, aus denen eine bestimmte Typologie entsteht.
                Art-Künst ler Robert Smithson und dessen Begeisterung für Geologie und die industrielle
                Verän derung der Erdoberfläche durch Planierraupen. Für Smithson sind der Künstler  Ihre Form resultiert aus der Maximierung der Verkaufsflächen
                und der Bergarbeiter – insofern sich Letzterer seiner Tätigkeit bewusst ist – glei -
                chermaßen natürliche  Agenten einer Kunst, die zwischen den unterschiedlichen  Da die hier besprochenen Schnecken-Gebäude ausschließlich Einkaufszentren dar stellen,
                Anliegen des Um welt schutzes und der industriellen Verwertung vermittelt. Im Fall von  spielen ideale Formen – in diesem Fall die Spirale – als „Modell“ nur eine untergeordnete
                Chile könnte das be deuten, die Guggenheims rückwirkend nicht nur als Kunstförderer  Rol le. Viel entscheidender wird das räumliche Diagramm hingegen von der „Regel“ ge -
                zu sehen, sondern selbst als Künstler zu  verstehen (vgl. Pedro Ignacio  Alonso,  prägt, die zur Verfügung stehende Fläche für den kommerziellen Handel zu maximieren.
                Mountaineering, AA Files 66 (London S. 85–90 2013).           Vor allem im Hinblick auf die oft nur minimalen Grund flächen, auf denen die Gebäude
                                                                              er richtet wurden, scheint nun die von dem Architekten Claude Parent und dem Philo -
                In ihrer Funktion sind die Schnecken mehr Mine als Museum     sophen Paul Virilio geprägte Vorstellung einer fonction oblique (Schrägfunktion) zumin -
                                                                              dest ideell verwandt. Parent und Virilio postulierten 1963 ein „En de des Vertikalen als
                Als räumliche Diagramme, die dazu dienen, das Geschäft zu maximieren, sind die chi -  einer Eleva tions achse“ und ein „En de des Horizontalen als dauer hafter Oberfläche“.
                lenischen Schneckengebäude, die ja allesamt als Einkaufszentren fungieren, letztlich  Anstelle des rechten Winkels forderten sie eine kontinuierliche und fließende Bewegung,
                jedoch mehr mit der Chuquicamata-Mine verwandt als mit dem New Yorker Guggen -  die den Körper zwingt, sich an Instabilität, Schwin delgefühl und Ungleichgewicht anzu-
                heim-Museum.  Deshalb verweigern sie sich auch, in einfache Genea lo gien und beruhi-  passen. Per ma nente Bewegung sollte das In ne halten ablösen. Die sogenannte Schräg -



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