Leitartikel “Rethinking Retail”

Vor gut 20 Jahren gingen Verbraucher in ein Ladengeschäft, um etwas zu kaufen. Später taten sie es online – weltweit. Heute ist beides verwoben: Menschen verschaffen sich online einen Überblick über die Angebote, aber erleben das Produkt im stationären Handel mit allen Sinnen und erkennen seine Wertigkeit. Ihnen sind Qualität und Ethik, eine nachhaltige Materialwahl sowie die Wiederverwendbarkeit der Produkte äußerst wichtig. Gleichzeitig möchten sie Teil einer Community rund um ein Produkt oder eine Marke sein. Sie wollen mitentscheiden, unterhalten werden, ihre Interessen ausleben und sich mit Gleichgesinnten austauschen. Die Antwort darauf sind pfiffige Hybridmodelle, zusätzliche (kostenfreie) Angebote passend zum Produkt, aber auch die Besinnung auf individuelle, auf den Standort abgestimmte Konzepte. Online unterstützen Customer-Insights-Plattformen, KI, Automatisierung sowie ganz neue Entwicklungen wie das Web 3.0 oder das noch schwer zu definierende Metaversum. Im Moment scheint alles möglich und eines ist ganz klar: Es genügt nicht mehr, einfach umzudenken, es müssen ungewöhnliche Konzepte geschaffen und gänzlich neue Wege beschritten werden, um offenkundig Gegensätzliches wie digital und analog, lokal und global, Stadt und Land miteinander zu verknüpfen und damit Retail neu zu formen.

„Buy Less, Choose Well, Make it Last“ – eine Phrase, die erstmals von der britischen Modedesignerin Vivienne Westwood geprägt wurde und heute präsenter denn je ist. Es geht nicht mehr nur darum, etwas zu kaufen. Vielmehr liegt der Fokus auf Qualität und Ethik bei der Herstellung. Das Bewusstsein der Verbraucher ist dahingehend geschärft, dass sie auf Produkte verzichten, deren Herstellung dem Wohlergehen der Menschen und unseres Planeten entgegenstehen. Eine nachhaltige Materialwahl im Sinne der Kreislaufwirtschaft wird immer wichtiger. Gleichzeitig entwickeln die Verbraucher ein größeres Verständnis für den Produktlebenszyklus, was sich darin zeigt, dass Reparatur, Recycling und Wiederverwendung an Bedeutung gewinnen.

Zu dieser Entwicklung gehört es auch, Produktion und Lieferketten resilienter und nachhaltiger zu gestalten. Dabei soll die Produktion der Produkte nicht vollständig in die nähere Umgebung (zurück)verlagert werden. Es gilt jedoch zu prüfen, inwiefern die Auslagerung tatsächlich sinnvoll ist.

War es lange Zeit ein entweder/oder, führen lokale Ladengeschäfte und Onlineshops heute eine Art symbiotischer Beziehung. Verbraucher schätzen das Omnichannel Shopping, bei dem sie sich online einen Überblick verschaffen und vor Ort die Produkte ansehen und testen können. Online können sie bisher nur eine Abbildung des Produkts sehen, im Laden spüren sie die Haptik und Materialität, sie erkennen die Wertigkeit und können das Produkt mit nahezu allen Sinnen erleben.

Gleichzeitig geht es schon lange nicht mehr nur darum, hochwertige Ware zu verkaufen, vielmehr können die Verbraucher ihre Interessen ausleben, Gleichgesinnte treffen und sich austauschen. Im US-Flagship-Store des Sportartikelherstellers Lululemon beispielsweise finden ein Yoga- und ein Fitnessstudio, ein Café sowie ein Meditationsraum Platz. Starbucks kollaboriert mit dem Smart Workplace Pionier ThinkLab und bietet in seinem Store in Tokio buchbare Arbeitsplätze für Einzelpersonen und Gruppen an, um der Nachbarschaft einen Service zu bieten, der über das Servieren von Kaffee hinaus geht.

Vielerorts entstehen Retailkonzepte, die nicht mehr losgelöst vom Umfeld gedacht werden. Dadurch werden die anonymen Einkaufsstraßen von vielfältigen und differenzierten Vierteln und Straßenzügen abgelöst. Etablierte (globale) Marken, aber auch Start-Ups erkennen diesen Trend und entscheiden sich ganz bewusst für kleinere, regionale Läden, die nicht nur in den Städten, sondern bewusst im ländlichen Raum angesiedelt werden. Dabei geht es vor allem um Personalisierung, um individuelle, auf den Standort abgestimmte Konzepte, die die potentiellen Kunden genau dort abholen, wo sie sich befinden. Die Mehrwert bieten, Interessen aufgreifen und sich an Lebenssituationen orientieren.

So bewegt sich IKEA beispielsweise weg von dezentralen Standorten sowie dem Schleusen der Besucher durch den gesamten Laden. Stattdessen setzt der Möbelhersteller neuerdings auf kompakte und übersichtliche Stores in Innenstadtlage sowie Formate, die an den spezifischen Kontext und die Bedürfnisse der Nachbarschaft angepasst sind. In New York beispielsweise gibt es seit 2019 einen Store, der sich auf die Ausstellung von Studio-Apartments spezialisiert hat.

Diese Entwicklung hin zur Personalisierung hat auch mit dem veränderten Selbstbild der Kunden zu tun: Sie sind längst nicht mehr nur Käufer, sie sind Teil einer Community rund um ein Produkt oder eine Marke. Sie wollen mitentscheiden, unterhalten werden und etwas erleben.

Das machen sich die Hersteller zunutze, indem sie die Nachfrage für ein Produkt anhand der Reaktion ihrer Community testen oder auch verschiedene Produkte gegeneinander antreten lassen, bevor sie eines davon produzieren lassen. Generell möchten Einzelhändler ein nahtloses Erlebnis und hybrides Einkaufen ermöglichen – online, im lokalen Geschäft, auf mobilen Geräten, in sozialen Medien und ähnlichem. Dabei ist es wichtig, die einzelnen Bereiche nicht gesondert, sondern übergreifend zu betrachten. Hierbei helfen Customer-Insights-Plattformen, die Daten über das Kaufverhalten und die Bedürfnisse der Kunden sammeln und auswerten. Eine künstliche Intelligenz kann nicht nur dabei unterstützen, die Kauferfahrung über die gesamte Customer Journey abzudecken, sondern beispielsweise bei Lieferengpässen den Kunden in Echtzeit informieren sowie Prognosen für die Zukunft abgeben.

Ist das alles noch leicht vorstellbar, klingen Stichworte wie Web 3.0, Metaversum oder Token schon eher nach Science Fiction. Doch auch wenn es in den Kinderschuhen steckt und teilweise noch schwer zu definieren ist, wird durch das Metaversum die Vernetzung von analog zu digital noch enger. Eine Vielzahl von Marken wie Adidas Originals, Gucci, H&M oder Puma haben diesen neuen Pfad bereits betreten, um in den virtuellen Räumen ein jüngeres Publikum für ihre physischen Produkte anzusprechen.

Lokal, regional, online … nichts davon kann mehr für sich betrachtet werden. Die Grenzen sind schon lange verschwommen und greifen ineinander. Der global agierende, anonyme Onlineplayer verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig kann ein ausschließlich regional tätiger Einzelhändler sich ohne ausgefallene Ideen kaum gegen die Konkurrenz behaupten. Diese Tatsache ist nichts neues, doch das Ausmaß scheint sich zu verändern. Es genügt nicht mehr, einfach umzudenken, vielmehr müssen ungewöhnliche Konzepte geschaffen und gänzlich neue Wege beschritten werden, um offenkundig Gegensätzliches wie digital und analog, lokal und global, Stadt und Land miteinander zu verknüpfen und damit Retail neu zu formen.

 

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