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Dominik Reding (li.)



                                     1969 in Dortmund geboren 1989–1992 Architekturstudium an der RWTH
                                     Aachen 1992–1999 Filmstudium an der HFBK Hamburg 1999 Debütfilm
                                     Oi!Warning (mit Benjamin Reding) seit 1999 Filmproduktion Eye!Warning




                aus“, ruft der sportive Mittdreißiger aus dem Fenster seines Audi A8. „Wie eine Uniform,
                wie bei der Bundeswehr. Das zeichnet euch doch aus. Das ihr richtig seid, sauber, korrekt
                und gepflegt.“ „Die Kluft, die hab ich zum Schuften an, das ist meine Arbeitskleidung.
                Die wird dann auch mal dreckig, die stinkt dann auch, ne?“ Der Geselle lehnt sich zum
                Fahrer herunter und der Fahrer zu ihm hinauf. „Ach, so eine Kluft, die ist wie ein Orden,
                dass man sofort erkennt, was ihr für tolle Kameraden seid!“ „Gibt auch Frauen auf Tip-
                pelei“, sagt der Geselle und schultert sein Reisebündel. Und der Fahrer fragt: „Wollt ihr
                jetzt mit?“ Die beiden Cordhosen tragenden, nassen Gestalten schauen sich kurz an. „Nö,
                aber danke“, sagt der Geselle. Der Fahrer blickt einen Moment lang in ihre Gesichter, ir-
                ritiert, ungläubig, verblüfft, dann schließt er das Fenster und gibt Gas. So kräftig, dass
                die Räder beim Anfahren quietschen. „Wir sind Menschen, nix besonderes, wie alle an-
                deren auch!“, ruft der Geselle plötzlich, aber da ist der Audi schon außer Hörweite.

                Wie eine Uniform, wie bei der Bundeswehr

                Okay, es ist keine Uniform, aber was ist es dann? Ich betanke mein Auto, schaue zu den
                beiden Wandergesellen hinüber. Er zieht aus der Hosentasche seiner Kluft einen
                Deutschlandplan, faltet ihn auseinander, lässt seinen Zeigefinger über die Linien gleiten;
                sie dreht sich eine Zigarette, raucht. Ist es eine Arbeitskleidung? Dann sicher nicht die
                praktischste. Viel zu schwer, viel zu groß, zu dick, zu unbelüftet, und wie es aussieht,
                nur wenig wetterfest. Oder ein Haus? Für drei Jahre und einen Tag, wie es die Regeln der
                Wandergesellen verlangen? Geräumig mit Hunderten Taschen, beladen so schwer wie
                das Reisegepäck einer Himalaja-Expedition. Oder doch ein auf altertümlich machender
                Mummenschanz, ein schrilles Kostüm, um sich aus der Masse herauszuheben; für drei  Der Blick hinter die Kamera von Benjamin Reding • A glimpse behind Benjamin Reding’s camera
                Jahre etwas zu sein, groß, wichtig, anerkannt, viel bedeutend und viel geknipst? Ein
                Symbol zu werden für Begriffe wie Tradition, Zunft, Handwerk, Heimat? Ein Vorbild zu
                werden, ein Held, Sehnsuchtsfigur, Projektionsfläche, Inkarnation? Ein lebender Zinntel-  los, ohne alles und das drei Jahre lang. Je nach gesellschaftlichem Standpunkt, ästheti-
                ler, da nützen auch kein Rufen und kein Protestieren, dachte ich! Und darunter steckt  schem Standpunkt, politischem Standpunkt, moralischem Standpunkt fotografierten
                dann der Mensch. Wie mag er aussehen? Ich hänge den Benzinhahn zurück in die Gabel.  und inszenierten die Lichtbildner die Gesellen. Mochten sie an ihnen das Konservative,
                Das leise Surren in der Zapfsäule verstummt. Sieht man ihr und ihm die Wanderschaft  Heimatverbundene, Altmodische, dann suchten sie die Umgebung von Wald und Wiese,
                auch am Körper an, den Helden an der Haut? Die Kluft lässt nichts ahnen, lässt nichts  Landstraße und Kornfeld und zeigten die naturgesunden Handwerkergesichter im Som-
                durch. Die vollgestopften Taschen, der schwere, schwarze Cordstoff plustert die Gesellen  mersonnenschein. Suchten und erhofften sie das Rebellische, Aufmüpfige, Umstürzleri-
                auf wie Weihnachtsmänner am Tag der Bescherung. Eigentlich müssten sie hier nackt  sche, dann zeigten sie die Wandergesellen Fahnen tragend und die Fäuste ballend auf
                stehen. Ohne Uniform, ohne alles. Ja, das wäre radikal. Radikal ehrlich! Der nackte Zinn-  den Gewerkschaftsdemonstrationen am 1. Mai. Suchten sie aber das Weltabgewandte,
                teller. Den kann es nicht geben. Dann ist er zerschlagen. Dann sind sie wieder Menschen,  das sich Verweigernde, das Vergangene, Verlorene, dann fotografierten sie die Gesellen
                wenn sie wollen, die beiden. Nicht mehr und nicht weniger. Ich schaue zu ihnen hinüber.  vor den Grenzen der großen Städte, an den Rändern der breiten, asphaltierten Straßen,
                August Sander hat sie fotografiert und E. O. Hoppé und Otto Umbehr, genannt Umbo, die  oft neben oder hinter Automobilen, abgekämpft, allein und müde, so als habe die Zeit
                großen Fotografen der 1920er-Jahre. Damals wurden Wandergesellen zu einem Sujet der  sie eingeholt und überholt. Nur in einem, da gleichen sie sich, die Wandergesellen-Auf-
                Fotokunst und der Kunst überhaupt: Otto Dix malte sie, Joachim Ringelnatz dichtete über  nahmen der großen Fotografen: Sie blieben bei der Form, der Silhouette, verharrten zwi-
                sie und der Regisseur Walter Ruttmann filmte sie in seiner „Symphonie einer Großstadt“.  schen halbtotal und halbnah, blieben bei der Optik, den breitkrempigen Hüten, den
                Die Zeit erkannte sie, entdeckte sie, bestaunte sie, wie grotesk geformte Steine, die das  schweren Schlaghosen, den gewundenen Stenzen und prall gefüllten Ränzlein, dem pit-
                plötzlich absinkende Wasser eines Sees freilegt, immer schon da gewesen, aber nie be-  toresken Schwarz und Weiß des Cordstoffs und der Leinenhemden. Ein Blick von außen
                achtet. Die wandernden Handwerker begannen aufzufallen, weil sie aus der Zeit fielen.  auf das Außen, mal anerkennend, mal heroisierend, mal mitleidig diese fremden Gestal-
                Erst selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltags, wurden sie nun zu Repräsentanten ver-  ten festhaltend. Eine fotografische Suche nach dem Stereotyp, nicht dem Individuum. Es
                gangener Traditionen aus vergangenen Jahrhunderten, zur Antithese zum Maschinen-  blieb bei der Kluft, nicht der Haut.
                zeitalter, zum Fließband, zu Lochkarte und Schichtarbeit. Sie wurden damit, von ihnen
                selbst kaum bemerkt, weil sie ja doch nur das taten, was sie immer schon getan hatten,  Man müsste den Menschen darunter sichtbar machen
                zum Synonym für all die Dinge, die verschwanden – von Heimat bis Handwerkskunst.
                Und sie wurden zu Rebellen. Die Künstler fühlten es zuerst, die Fotografen, die Maler,  Die beiden Wandergesellen an der Autobahn-Raststätte stapfen durch den Schneeregen
                die Schriftsteller, die Filmemacher erkannten, dass in den Wandergesellen etwas Rebel-  zum nächsten Wagen, klopfen, fragen, die Fahrerin schüttelt den Kopf. Das Wasser
                lisches steckt: die Rebellion der Verweigerung; das Sich-gegen-die-Zeit-Stemmen; die Pro-  rauscht unter den anfahrenden Reifen. Diese Fotos werden ihnen nicht gerecht. Sie zei-
                vokation, ohne Besitz, ohne feste Anstellung, ohne Wohnung zu leben; Grenzen und Ob-  gen ja nicht sie, sondern die Sehnsüchte, Absichten, Meinungen der Fotografen. Ich
                rigkeiten infrage zu stellen und die Anmaßung, frei zu sein; schonungslos, bedingungs-  schließe den Tankdeckel, zahle. Man müsste sie neu aufnehmen, aber anders, ohne Um-

                                                                                                                             AIT 7/8.2019  •  123
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