Page 29 - AIT0719_Leseprobe
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Entwurf • Design Lilitt Bollinger, CH-Nuglar; Buchner Bründler, CH-Basel
                Bauherr • Client Lilitt Bollinger und Daniel Buchner, CH-Nuglar
                Standort • Location Bifangstr. 5, CH-4412 Nuglar
                Nutzfläche • Floor space 400 m 2
                Fotos • Photos Mark Niedermann, CH-Riehen
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                Ein kreisrunder Durchbruch in der massiven Betonwand verbindet Werkstatt und Wohnbereich miteinander. • A circular opening in the concret wall connects the workshop and the living area.




                Bedeutsamkeit für den Ort. 1920 wurde ein Wohnbau an der Kreuzung von Bifang- und  des Dorfes, des Gebäudes am Hang sowie eine überwältigende Fernsicht wurde durch
                Liestalerstrasse errichtet, der 1936 einen Umbau zur Schnapsbrennerei Urs Saladin er-  diesen Eingriff zugunsten eines sehr langen schmalen Raumes, der Küche und Wohnen
                fuhr und 1968 entlang der Bifangstrasse um ein großes Lager mit Verkaufsraum erwei-  umfasst, unmittelbar erlebbar. In die Decke wurden mehrfach kreisrunde Löcher ein-
                tert wurde. Anfang der 1970er-Jahre wurden noch 10.750 Kirschbäume im Ort gezählt –  geschnitten, um mit Kuppelfenstern Licht in die Tiefe der darunterliegenden Räume zu
                bei rund 800 Dorfbewohnern. Das Gebäude diente als Annahmestelle für sämtliche im  bringen. Das Motiv der kreisrunden Löcher taucht auch als Ausschnitt in der Beton-
                Dorf gewonnenen Kirschen. Im Nachbarhaus, das heute ein Restaurant mit Bierbraue-  wand auf, die das ehemalige Kirschlager und die heutige Garage mit dem Wohnteil ver-
                rei beherbergt, wurde der „Schwarzbuebekirsch“ gebrannt, und in den Untergeschos-  bindet. Innenwände wurden zum Teil entfernt oder mit weiteren Öffnungen versehen.
                sen des Lageranbaus wurden die Kirschen in Fässern zum Gären gebracht. In einem  Im Sommer stehen diese Öffnungen offen und es entsteht ein großer, mäandrierender
                zur Straße hin orientierten Laden verkaufte man Schnaps, Wein und Dinge des tägli-  Gesamtraum, in der Heizperiode werden sie geschlossen. Einbauten gliedern den
                chen Bedarfs. So standen nahezu alle Dorfbewohner in einer Beziehung zu diesem Ge-  Raum für die gewünschten Nutzungen. Die Eingriffe sowie der Bestand bestehen haupt-
                bäude. Doch die Firma geriet in Schieflage und über die letzten 20 Jahre stand der Bau  sächlich aus zwei Materialien: Beton und Holz. Die Patina, die in den letzten 50 Jahren
                leer. Mit dem Umbau wurde ein ganzes Dorf angesprochen und kollektive Erinnerun-  entstanden ist, lässt die Zeitschichten erkennen. Die Ausbauten in Holz wurden so ent-
                gen wurden geweckt. Die Architekten erfuhren viele Geschichten und das Interesse am  wickelt, dass diese direkt vor Ort durch präzises Handwerk gefertigt werden konnten.
                Umbauprozess war unerwartet groß. Während der Bestandsuntersuchungen wurden
                Bollinger und Buchner kundig, dass ihre Annahme, es handle sich um einen reinen Be-  Dem Gebäude eine neue Zeitschicht hinzufügen
                tonbau, falsch war, und dass die eine Hälfte des Gebäudes über ein filigranes, weit ge-
                spanntes Holzdach verfügt, das sich – einmal freigelegt – als Schatz entpuppte und die  In ihrer Oberfläche bleiben die Materialien mehrheitlich roh. In die große Halle des
                ursprüngliche Absicht der Architekten nach intensiv farbiger Gestaltung bremste.  ehemaligen Ladens wurden Raummöbel eingebaut, die Bad, WC, Schränke und Gäste-
                                                                              zimmer umfassen, Raumnischen ausbilden und den Gesamtraum in einen Wohn- und
                Präzise Details stehen rohem Material gegenüber               einen Atelierbereich unterteilen. Zur Straße hin tritt der Atelierbereich mit einem neuen
                                                                              grünen Fenstermöbel in Erscheinung, das außen mit einer langen Sitzbank zum Ver-
                Eine massive Betonwand im Erdgeschoss teilt das Lagerhaus in zwei Bereiche. Diese  weilen einlädt und innen als Regalmöbel dient. Sämtliche Regale und sichtbaren Kon-
                wollten Bollinger und Buchner als Hallen erlebbar lassen und gleichzeitig miteinander  struktionen wurden in Fichtenholz ausgeführt, alle Möbel und Türen wurden aus See-
                verbinden. Die alte Kirschenanlieferung wurde als Werkstatt und Garage erhalten und  kiefer gebaut. Teilweise war eine zusätzliche Dämmung der Außenwände nötig. An die-
                mit einem Arbeitsraum aufgestockt. Der Standort des ehemaligen Ladens und die da-  sen Stellen wurde die Wand von innen ebenfalls mit Seekieferplatten beplankt. Die Kü-
                zugehörige Fassadenöffnung boten sich idealerweise für einen Atelierraum an. Da sich  chenunterbauten sind ausnahmsweise in Eiche gefertigt. Wichtig war den Architekten
                das Lagerhaus ursprünglich nur zum Dorf hin öffnete und die Nutzungsänderung Woh-  die Sichtbarkeit der Schichtungen und Fügung der Materialien und die weitgehend un-
                nen zusätzliches Licht erforderte, beschlossen die Architekten, sechs großformatige Aus-  behandelten, rauen, haptischen Oberflächen. Bestandsmaterialien wurden nicht sa-
                schnitte in die Struktur der ostseitigen Betonfassade schneiden zu lassen. Da die beste-  niert, sondern mit all ihren Gebrauchsspuren belassen, wie sie sind. Die feinen präzi-
                henden Fenster dort eine Brüstungshöhe von 2.50 Meter hatten, wurden alle Fenster-  sen Detaillierungen der Einbauten stehen der rohen Unmittelbarkeit des Materials ge-
                brüstungen auf Sitzbankhöhe heruntergeschnitten. Vor diesen herausgeschnittenen Öff-  genüber, ein Ort, der Spuren seiner Zeit zeigt, dessen Geschichte ablesbar ist. Es ist
                nungen sitzt außen ein durchgehender Fensterkasten aus Stahl. Die topografische Lage  genau das, was Bollinger will: dem Alten lediglich eine neue Zeitschicht hinzufügen.

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