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WOHNEN • LIVING THEORIE • THEORY
Zeitgenossen hart. An seinen Verleger schreibt er jedoch: „Ich weiß es zuverlässig: Ihr Sohn wird die Früchte dieses Buches ernten,
Abb.: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt/M. Romans doch den Anfang eines langsamen, fast zehn Jahre währenden Sterbens. Am Ende trennt sich der von Alkoholexzessen
es hat eine Zukunft, weil es für das gegenwärtige Geschlecht zu tief ist, und erst reifen muss, es hat gewisser eine Zukunft als alles,
was ich früher geschrieben habe.“ Auch wenn Stifter damit recht behalten sollte, so bildete der Misserfolg seines ersten großen
und schweren Depressionen aufgezehrte Stifter selbst mit einem Schnitt durch die Kehle von dieser Welt. Ehrenretter, die dem
Dichter seinen Selbstmord nicht gönnen wollten, sprachen später gar von einem Unfall beim Rasieren – mitternachts, im Bett
liegend! Die Todesurkunde hingegen vermerkte lapidar: „Zehrfieber infolge chroni scher Atrophie“ – Leberzirrhose. Einen
Die wohl ausführlichste und weitschweifigste Innenarchitekturbeschreibung der Literaturgeschichte
Das Rosenhaus der Stuttgarter Schule, ca. 1920-1930 Selbstmörder hätte man damals noch neben dem Friedhof beerdigen müssen.
Abb.: Architekturmuseum der TU München ein „Lehrbuch des schönen Lebens“! Wir würden so etwas heute wohl einen Styleguide nennen: „Wer sich darüber unterrichten
Was die Litera tur kritik lange übersah: Stifter hatte keinen Roman im herkömmlichen Sinne geschrieben, sondern ein Lehrbuch –
will, wie man seine Privat woh nung, seine Bibliotheken, seine Gärten, seine Werkstätten usw. ebenso geschmackvoll als zweck-
mäßig ausstatten kann, findet in diesem Roman die reichhaltigsten Notizen.“ Das war, als es 1858 geschrieben wurde, ein beißen-
der Verriss. Heute können wir darin die vielleicht weitsichtigste Erklärung für den seit mehr als 100 Jahren anhaltenden Erfolg
von Stifters »Nachsommer« erkennen. Denn der Dichter nutzte den vollkommenen Verzicht auf Handlung für die wohl aus-
Rosenhauses wird ausgelassen. Jedes noch so winzige Zimmerchen ist eingehend und umständlich beschrieben – angefangen bei
Das Rosenhaus von Theodor Fischer, 1931 führlichste, weitschweifigste und umfassendste Innenarchitek tur beschreibung der modernen Literaturgeschichte. Kein Raum des
den verschiedenen Maserungen der Holzdielen, über alle nur erdenklichen Details der fein ziselierten Möbelstücke bis hin zu den
unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Räume bei sich ändernden Wetter la gen. Ein „Hohelied des Hauses“ nannte man
den Roman deshalb später. Das 19. Jahrhundert, eine Epoche revolutionärer technischer und wirtschaftlicher – und damit letztlich
auch gesellschaftlicher – Entwicklungen, konnte an Stifters langatmigen Darstellungen jedoch keinen Geschmack finden. „Einen
Menschen des 19. Jahrhunderts, für den Zeit Geld ist“, würde der Roman, so ein Kritiker, „allmählich zur Verzweiflung bringen.“
Abb.: Architekturzentrum Wien »Nachsommers«. Im Zuge der Lebensreform setzte sich das Bürgertum nun mit den zunehmend als bedrohlich empfundenen
Und so dauerte es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, ehe ein „Geschlecht reif“ war für die Wiederent de ckung des
Folgen des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts auseinander. Immer deutlicher zeigten sich dessen unkontrollierbare
Folgen für Mensch und Natur. Die Erfahrung gestörter Kontinuitäten, ein nie da gewesener Bruch mit den Traditionen, prägte das
plötz lich eine Art Flucht punkt in eine andere, scheinbar geordnete Realität. Und die Längen des Romans? Sie verwandelten sich
Das Rosenhaus von Johannes Spalt, ca. 1940-1945 Lebensgefühl um 1900. Im vermeintlichen Chaos einer immer komplexer werdenden Welt bildete Stifters »Nachsommer« nun
in eine „heilsame Langeweile“. Entschleunigung lautete das Motto, damals – wie heute!
Abb.: TU Kaiserslautern, Prof. Hild Über Gestaltungsfragen reden Stifters Figuren wie die Reformer der Werkbundbewegung
Die führenden Architekten der Jahrhundertwende wiederum – in Österreich waren es die Mitglieder der Wiener Secession, in
Deutschland die Grün der väter des Werkbundes – entdeckten nun in Stifters häuslicher Idylle den künstlerischen Höhepunkt einer
der Schlachtruf „Das Biedermeier als Erzieher!“ hinaus in die Welt. Ihm folgten Architekten wie Peter Behrens, Josef Hoffmann,
Das Rosenhaus von Sabine Hollenbach, 1997/98 letzten, von einem einheitlichen Stilwillen getragenen Bauepoche, an deren Ende man nun wieder anzuknüpfen habe. So ging
Adolf Loos, Bruno Paul oder Heinrich Tessenow. Das unscheinbare, in die umgebende Landschaft eingebettete Rosenhaus, in dem
sich schlichte Zweckmäßigkeit in der Anordnung mit edler Materialbehandlung im Detail verband und dessen architektonische
Wahrhaftigkeit sich letztlich auch auf das Dasein seiner idealen Bewohner zu übertragen schien, Kunst und Leben also zu einer
Einheit verschmelzten, entwickelte sich zur Blau pause der so genannten Neuen Sachlichkeit. Sie löste den Stil- und
Fassadenkarneval des Historismus ab. Das Rosenhaus geriet dabei zur beherrschenden Idealarchitektur der beginnenden
Moderne. „Über Gestaltungsfragen reden die Figuren dieses Romans wie die Refor mer der Werkbundbewegung“, sagt heute der
Architekturhistoriker Wolfgang Voigt. Und meint damit auch die Generation von Ludwig Mies van der Rohe, dessen legendäre
Villa Tugendhat in Brno in Stifters Rosenhaus „präfiguriert“ war, und Le Corbusier, der 1922 in »Vers une Architecture« über
„Häuser wie Nachsommergedichte“ fabulierte. Der Münchner Architekt Theodor Fischer wiederum, der als „Lehrer der
Avantgarde“ in die moderne Architekturgeschichte einging (zu seinen Schülern gehörten unter anderem Bruno Taut, Hugo Häring,
Ernst May und Erich Mendelsohn), fertigte nicht nur eigene Skizzen des Rosenhauses an, sondern ließ auch seine Studenten
regelmäßig Entwürfe nach den Beschreibungen des Romans herstellen – eine Praxis, die in den 1920er- und 1930er-Jahren an vie-
len Architekturhochschulen üblich war und in Einzelfällen noch heute praktiziert wird. Auch in Stuttgart galt unter der Ägide von
Paul Schmitthenner das Nachentwerfen des Rosenhauses als beliebte Aufgabe für die Studenten. Schmitthenner, der zusammen
mit seinem Lehrerkollegen Paul Bonatz zu den Begründern der legendären Stuttgarter Schule gehörte, darf dabei als derjenige
Architekt des 20. Jahr hunderts betrachtet werden, dessen Werk am entschiedendsten von der Lektüre Stifters beeinflusst war. Er
„lebte und wirkte“, so einer seiner Schüler, geradezu in der Welt des »Nachsommers«. Zu seiner eigenen Haltung schrieb
Schmitthenner 1941: „Unsterbliche Bau meister gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter
des menschlichen Geschlechtes. Allein, wenn auch nicht jedes Bauwerk hohe Baukunst sein kann, so kann es doch etwas anderes
sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins ab geht. Ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Dauernden beizutragen, das war die
Absicht bei meinem Bauen.“ Einhundert Jahre vorher setzte Stifter an den Beginn seiner Erzählung »Bunte Steine« die folgenden
Worte: „Dichter gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter des menschlichen
Geschlechtes. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können, so könnten sie doch etwas anderes sein,
dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht. Ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht
bei meinen Schriften.“ Bei Schmitthenner werden Menschen zu Häusern, Schriften zu Bauwerken, Dichtung zur hohen Baukunst
und das Ewige wird ins Dauernde verwandelt, ansonsten nutzte der Architekt die Worte des Dichters unverändert zur
Formulierung seiner eigenen Architekturtheorie – ein für die Geschichte der Architektur einzigartiger Vorgang! Als „verstaubt“ und
174 • AIT 7/8.2017

