Page 28 - AIT0717_Leseprobe
P. 28

WOHNEN  •  LIVING THEORIE • THEORY

                                              Zeitgenossen hart. An seinen Verleger schreibt er jedoch: „Ich weiß es zuverlässig: Ihr Sohn wird die Früchte dieses Buches ernten,
               Abb.: Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt/M.  Romans doch den Anfang eines langsamen, fast zehn Jahre währenden Sterbens. Am Ende trennt sich der von Alkoholexzessen
                                              es hat eine Zukunft, weil es für das gegenwärtige Geschlecht zu tief ist, und erst reifen muss, es hat gewisser eine Zukunft als alles,
                                              was ich früher geschrieben habe.“ Auch wenn Stifter damit recht behalten sollte, so bildete der Misserfolg seines ersten großen

                                              und schweren Depressionen aufgezehrte Stifter selbst mit einem Schnitt durch die Kehle von dieser Welt. Ehrenretter, die dem
                                              Dichter seinen Selbstmord nicht gönnen wollten, sprachen später gar von einem Unfall beim Rasieren – mitternachts, im Bett
                                              liegend!  Die  Todesurkunde  hingegen  vermerkte  lapidar:  „Zehrfieber  infolge  chroni scher  Atrophie“  –  Leberzirrhose.  Einen



                                              Die wohl ausführlichste und weitschweifigste Innenarchitekturbeschreibung der Literaturgeschichte
               Das Rosenhaus der Stuttgarter Schule, ca. 1920-1930  Selbstmörder hätte man damals noch neben dem Friedhof beerdigen müssen.
               Abb.: Architekturmuseum der TU München  ein „Lehrbuch des schönen Lebens“! Wir würden so etwas heute wohl einen Styleguide nennen: „Wer sich darüber unterrichten
                                              Was die Litera tur kritik lange übersah: Stifter hatte keinen Roman im herkömmlichen Sinne geschrieben, sondern ein Lehrbuch –

                                              will, wie man seine Privat woh nung, seine Bibliotheken, seine Gärten, seine Werkstätten usw. ebenso geschmackvoll als zweck-
                                              mäßig ausstatten kann, findet in diesem Roman die reichhaltigsten Notizen.“ Das war, als es 1858 geschrieben wurde, ein beißen-
                                              der Verriss. Heute können wir darin die vielleicht weitsichtigste Erklärung für den seit mehr als 100 Jahren anhaltenden Erfolg
                                              von Stifters »Nachsommer« erkennen. Denn der Dichter nutzte den vollkommenen Verzicht auf Handlung für die wohl aus-

                                              Rosenhauses wird ausgelassen. Jedes noch so winzige Zimmerchen ist eingehend und umständlich beschrieben – angefangen bei
               Das Rosenhaus von Theodor Fischer, 1931  führlichste, weitschweifigste und umfassendste Innenarchitek tur beschreibung der modernen Literaturgeschichte. Kein Raum des
                                              den verschiedenen Maserungen der Holzdielen, über alle nur erdenklichen Details der fein ziselierten Möbelstücke bis hin zu den
                                              unterschiedlichen Stimmungen der einzelnen Räume bei sich ändernden Wetter la gen. Ein „Hohelied des Hauses“ nannte man
                                              den Roman deshalb später. Das 19. Jahrhundert, eine Epoche revolutionärer technischer und wirtschaftlicher – und damit letztlich
                                              auch gesellschaftlicher – Entwicklungen, konnte an Stifters langatmigen Darstellungen jedoch keinen Geschmack finden. „Einen
                                              Menschen des 19. Jahrhunderts, für den Zeit Geld ist“, würde der Roman, so ein Kritiker, „allmählich zur Verzweiflung bringen.“
               Abb.: Architekturzentrum Wien  »Nachsommers«. Im Zuge der Lebensreform setzte sich das Bürgertum nun mit den zunehmend als bedrohlich empfundenen
                                              Und  so  dauerte  es  bis  zum  Beginn  des  20.  Jahrhunderts,  ehe  ein  „Geschlecht  reif“  war  für  die  Wiederent de ckung  des
                                              Folgen des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts auseinander. Immer deutlicher zeigten sich dessen unkontrollierbare
                                              Folgen für Mensch und Natur. Die Erfahrung gestörter Kontinuitäten, ein nie da gewesener Bruch mit den Traditionen, prägte das

                                              plötz lich eine Art Flucht punkt in eine andere, scheinbar geordnete Realität. Und die Längen des Romans? Sie verwandelten sich
               Das Rosenhaus von Johannes Spalt, ca. 1940-1945  Lebensgefühl um 1900. Im vermeintlichen Chaos einer immer komplexer werdenden Welt bildete Stifters »Nachsommer« nun
                                              in eine „heilsame Langeweile“. Entschleunigung lautete das Motto, damals – wie heute!
               Abb.: TU Kaiserslautern, Prof. Hild  Über Gestaltungsfragen reden Stifters Figuren wie die Reformer der Werkbundbewegung



                                              Die führenden Architekten der Jahrhundertwende wiederum – in Österreich waren es die Mitglieder der Wiener Secession, in
                                              Deutschland die Grün der väter des Werkbundes – entdeckten nun in Stifters häuslicher Idylle den künstlerischen Höhepunkt einer

                                              der Schlachtruf „Das Biedermeier als Erzieher!“ hinaus in die Welt. Ihm folgten Architekten wie Peter Behrens, Josef Hoffmann,
               Das Rosenhaus von Sabine Hollenbach, 1997/98  letzten, von einem einheitlichen Stilwillen getragenen Bauepoche, an deren Ende man nun wieder anzuknüpfen habe. So ging
                                              Adolf Loos, Bruno Paul oder Heinrich Tessenow. Das unscheinbare, in die umgebende Landschaft eingebettete Rosenhaus, in dem
                                              sich schlichte Zweckmäßigkeit in der Anordnung mit edler Materialbehandlung im Detail verband und dessen architektonische
                                              Wahrhaftigkeit sich letztlich auch auf das Dasein seiner idealen Bewohner zu übertragen schien, Kunst und Leben also zu einer
                                              Einheit  verschmelzten,  entwickelte  sich  zur  Blau pause  der  so  genannten  Neuen  Sachlichkeit.  Sie  löste  den  Stil-  und
                                              Fassadenkarneval  des  Historismus  ab.  Das  Rosenhaus  geriet  dabei  zur  beherrschenden  Idealarchitektur  der  beginnenden
                                              Moderne. „Über Gestaltungsfragen reden die Figuren dieses Romans wie die Refor mer der Werkbundbewegung“, sagt heute der
                                              Architekturhistoriker Wolfgang Voigt. Und meint damit auch die Generation von Ludwig Mies van der Rohe, dessen legendäre
                                              Villa Tugendhat in Brno in Stifters Rosenhaus „präfiguriert“ war, und Le Corbusier, der 1922 in »Vers une Architecture« über
                                              „Häuser  wie  Nachsommergedichte“  fabulierte.  Der  Münchner  Architekt  Theodor  Fischer  wiederum,  der  als  „Lehrer  der
                                              Avantgarde“ in die moderne Architekturgeschichte einging (zu seinen Schülern gehörten unter anderem Bruno Taut, Hugo Häring,
                                              Ernst May und Erich Mendelsohn), fertigte nicht nur eigene Skizzen des Rosenhauses an, sondern ließ auch seine Studenten
                                              regelmäßig Entwürfe nach den Beschreibungen des Romans herstellen – eine Praxis, die in den 1920er- und 1930er-Jahren an vie-
                                              len Architekturhochschulen üblich war und in Einzelfällen noch heute praktiziert wird. Auch in Stuttgart galt unter der Ägide von
                                              Paul Schmitthenner das Nachentwerfen des Rosenhauses als beliebte Aufgabe für die Studenten. Schmitthenner, der zusammen
                                              mit seinem Lehrerkollegen Paul Bonatz zu den Begründern der legendären Stuttgarter Schule gehörte, darf dabei als derjenige
                                              Architekt des 20. Jahr hunderts betrachtet werden, dessen Werk am entschiedendsten von der Lektüre Stifters beeinflusst war. Er
                                              „lebte  und  wirkte“,  so  einer  seiner  Schüler,  geradezu  in  der  Welt  des  »Nachsommers«.  Zu  seiner  eigenen  Haltung  schrieb
                                              Schmitthenner 1941: „Unsterbliche Bau meister gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die Wohltäter
                                              des menschlichen Geschlechtes. Allein, wenn auch nicht jedes Bauwerk hohe Baukunst sein kann, so kann es doch etwas anderes
                                              sein, dem nicht alle Berechtigung des Daseins ab geht. Ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Dauernden beizutragen, das war die
                                              Absicht bei meinem Bauen.“ Einhundert Jahre vorher setzte Stifter an den Beginn seiner Erzählung »Bunte Steine« die folgenden
                                              Worte:  „Dichter  gibt  es  sehr  wenige  auf  der  Welt,  sie  sind  die  hohen  Priester,  sie  sind  die  Wohltäter  des  menschlichen
                                              Geschlechtes. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können, so könnten sie doch etwas anderes sein,
                                              dem nicht alle Berechtigung des Daseins abgeht. Ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht
                                              bei meinen Schriften.“ Bei Schmitthenner werden Menschen zu Häusern, Schriften zu Bauwerken, Dichtung zur hohen Baukunst
                                              und  das  Ewige  wird  ins  Dauernde  verwandelt,  ansonsten  nutzte  der  Architekt  die  Worte  des  Dichters  unverändert  zur
                                              Formulierung seiner eigenen Architekturtheorie – ein für die Geschichte der Architektur einzigartiger Vorgang! Als „verstaubt“ und



               174  •  AIT 7/8.2017
   23   24   25   26   27   28   29   30   31   32