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Entwurf • Design Baumgartner Loewe Architekten, CH-Zürich
Bauherr • Client Einwohnergemeinde Cham, CH-Cham
Standort • Location Röhrliberg 1 und 3, CH-Cham
Nutzfläche • Floor space 6.040 m 2
Fotos • Photos Roland Bernath, CH-Zürich
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Nach Sanierung: Aula mit altem Charme und neuer Technik • School hall with old charm and new technology Nach Aufstockung: Sporthalle mit transformierten Oberlichtern • Gymnasium with transformed skylights
von • by Kira Sophie Kawohl
M ehr Demokratie wagen – der Leitsatz Willy Brandts steht heute sinnbildhaft für schließungsflächen konnte die ursprüngliche Raumabfolge beibehalten werden. Die ge-
wählte Position der Anbauten begünstigt die natürliche Belichtung des Pausenraums
die Aufbruchstimmung der frühen 1970er-Jahre. Damals hatte der allumfassende
Ansatz, ein größeres Mitspracherecht für Gesellschaft und Jugend zu ermöglichen, auch über die bestehenden Fenster. Zwei neue Gruppenräume liegen nun zwischen den bei-
die Bildungsdebatte und die damit einhergegangene Schulbauwelle erfasst. Im deutsch- den Klassenzimmern und können von hier aus direkt sowie auch unabhängig davon
sprachigen Raum entstand eine Vielzahl neuer Grund-, Gesamt- und Oberschulen mit durch den Vorraum erschlossen werden. Im Flachbau Röhrliberg II ist die Aula als Herz
offenen Lernräumen und demokratisierten Grundrissen. Viele dieser prägenden Bil- der Anlage in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben. Über dem Garderobentrakt
dungsbauten sind heute noch erhalten – meist aber sanierungsbedürftig. Doch auch der Sporthalle ist ein länglicher, flach gehaltener und zum Hof ausgerichteter Baukörper
wenn die pädagogischen Konzepte jener Jahre noch immer großteils als aktuell gelten entstanden, der die neue, im Stil der 1970er-Jahre eingerichtete Bibliothek aufnimmt.
können, wird die Frage „Erhalt oder Neubau?“ selten zugunsten des Bestands entschie-
den (siehe AIT05.2022, Theorie). Ein mangelhafter baulicher Zustand, hohe Sanierungs- Verbindung von Altem und Neuen ohne sichtbare Brüche
kosten oder die irreversible Verarbeitung von Schadstoffen sind nur einige Gründe hier-
für. Im Fall der Schulanlage Röhrliberg im schweizerischen Cham war es anders: Hier Insgesamt ist den ArchitektInnen das schwierige Vorhaben geglückt, die gestalterische
konnte eine Machbarkeitsstudie nachweisen, dass der im Jahr 1974 fertiggestellte Back- Sprache des Bestandsbaus sensibel aufzugreifen und im Rahmen aller Ergänzungen
steinbau mit Sichtbetonelementen über eine grundsätzlich solide Substanz verfügt und konsequent weiterzuführen. So ist eine einheitliche Verbindung von Altem und Neuem
sich für eine energetische Sanierung und die notwendig gewordene Erweiterung eignet. ohne sichtbare Brüche entstanden. Am Außenbau sind Unterschiede im Mauerwerk im
Bereich der Erweiterungen erst auf den zweiten Blick erkennbar. Das kompositorische
Bauliche Maßnahmen im denkmalgeschützten Bestand Raster der ursprünglichen Anlage, das auf der übergeordneten Grundgeometrie eines
Backsteins basiert, findet auch in der weitergeführten Architektur Beachtung. Flächen-
Die erste Schulanlage Röhrliberg ist ein Werk des Chamer Architekten Josef Stöckli komposition und Materialkanon der 1970er-Jahre definieren darüber hinaus auch die
(1929–2021). Sie besteht aus zwei Gebäudeteilen aus Sichtbackstein und Stahlbeton und Innenraumgestaltung aller neu hinzugekommenen Bauabschnitte. Ganz im Sinne der
ist als klassischer Campus mit zentralem Schulhof angelegt. Im Osten liegt das cluster- bauzeitlichen „Denkweise“ sind hier Grün- und Blautöne, Sichtziegel und dunkle Echt-
artig strukturierte, ursprünglich vierstöckige Schulhaus Röhrliberg I, in dem sich haupt- holzoberflächen zum Einsatz gekommen. Die ArchitektInnen zeigen so einen respekt-
sächlich Klassen- und Pausenräume befinden. Im Westen grenzt der L-förmige Flachbau vollen Umgang mit den Gestaltungsprinzipien der Entstehungszeit und dem Werk des
Röhrliberg II mit Aula und Sportanlagen sowie einer alten Bibliothek an. Das rote Back- jüngst verstorbenen Chamer Architekten Stöckli. Das ist auch aus Sicht der Denkmal-
stein-Ensemble in hügeliger Landschaft zählt zu den wichtigen und identitätstiftenden pflege beachtenswert und aktuell, stellt diese doch erst seit jüngster Zeit die Epoche der
Bauten der Nachkriegsmoderne in der Region und wurde aufgrund seines hohen Wie- 1970er- bis 1980er-Jahre vermehrt in den Fokus schützenswerter Bauten. Da aber große
dererkennungs- und Wissenschaftswertes im Jahr 2017 als Baudenkmal eingestuft. Die- Teile des Bestands öffentlicher Gebäude in dieser Zeit und in ähnlicher Bauweise errich-
sem Umstand entsprechend sollten auch die gebäudetechnische und energetische Sa- tet worden sind und da vor allem in diesem Bereich ein eklatanter Sanierungsstau
nierung beider Bauwerke sowie deren räumliche Erweiterung um je einen Gruppen- herrscht, kann die Erneuerung der Schulanlage Röhrliberg exemplarisch angeführt wer-
raum pro Klassenzimmer, zwei neue Schulküchen und eine neue Bibliothek realisiert den. Auch vor dem Hintergrund sich stetig wandelnder pädagogischer Konzepte kann
werden. Um ein zeitgemäßes Raumangebot umzusetzen, ergänzten Baumgartner Loewe eine vergleichbare Erweiterung, die sich die Vorteile bereits bestehender Programme zu-
Architekten aus Zürich das Schulhaus Röhrliberg I um zwei sechsgeschossige Anbauten nutze macht, viel zur aktuellen Problemlösung beitragen. Der Erhalt und die nachhaltige
mit je einem neuen Klassenzimmer pro Etage sowie eine vollständige Aufstockung im Weiterentwicklung der Schularchitektur aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ge-
dritten Geschoss. Durch die Anfügung der neuen Klassenräume an die bestehenden Er- hören schließlich zu den wichtigen öffentlichen Bauaufgaben unserer Zeit.
AIT 5.2023 • 115