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BAR HOTEL RESTAURANT  THEORIE • THEORY
















               Abbildung: © Kunsthistorisches Museum Wien                   Abbildung aus: Beschreibung derer Fürstlicher Gülig’scher Hochzeit, Diederich Graminaeus, Köln, 1587











               Abb. 5 Saliera, Benvenuto Cellini (1500–1571), ca. 1540–43 • Saliera, Benvenuto Cellini   Abb. 6 Bankett-Darstellung der „Jülicher Hochzeit“, 1885 • Banquet representation of the “Jülich Wedding”


               rö mische Herkunft der Tellus beziehen.  Auch andere Tischaufsätze der Renaissance  und sie sind ein wichtiges Vermittlungs instrument für Laien. Architektur wird hier
               brach ten Architektur. 1593 wird von einem Gastmahl Papst Clemens VIII. in Rom berichtet,  nicht beiläufig  wahrgenommen, sondern un mittelbar, allerdings außerhalb ihres
               das auf der Tafel „das Castell S. Angeli von Marzepanzeug natürlichst abgebildet“ sei.  eigentlichen Gebrauchs. Umso mehr sollten architektonische Tischaufsätze oder auch
               1608 befanden sich auf einem Hochzeitsbankett in Florenz neben „Seulen“ und „Pira mi -  Gadgets nicht als eigentümliche Spielereien abgetan werden, sondern durchaus als
               den“ noch „allerley Bawkünst, als Pallast und Sommerhäuser, Thuren, Brücken“ auf dem  Bildungsträger. Antoine Carème setzte für jeden Zuckerbäcker voraus, dass er die „fünf
               Tisch. Meist aus essbaren Materialien geschaffen, sind solche Tischaufsätze oft nur litera -  Ordnungen nach Vignola“ kenne und be herr sche. Gleiches sollte wohl für die Spei -
               risch überliefert. Die große Zeit der antiken Architektur als Tischaufsätze sollte erst wäh -  senden an einer mit seinen Architek turen gedeckten Tafel gelten.
               rend des Klassizismus folgen. Während des Barock ergötzte man sich an spielerischen  Dem  Verfall der Ess- und Tischkultur können  wir nun denjenigen der Baukultur
               Tempelchen aus farbigem Porzellan oder in zierlichen Rokokoformen gehaltenen Tisch -  gegen überstellen. Auch hier mehr „Fast Food“ als hohe Kunst. Die Banalität vieler
               brünnchen, in und neben denen sich allegorische und fremdländische Figuren tummeln.  Bauten nehmen  wir heute oft ebenso  wenig  wahr,  wie die miese Qualität einer
               Graf Brühl bestellte 1754 für sein Schloss Pförten einen „Ehrentempel“, der mit 264 weite -  Tiefkühlpizza. Und so  wissen  wir zu  wenig über Baukultur  wie über Ess- und
               ren Elementen opulent dekoriert war. Mit solchen Anreizen konnte man im Gespräch bei  Tischkultur. Schade, denn eigentlich wollen wir ja gute Architektur, gutes Essen und
               Tisch sein Wissen um Mythologie, christliche Werte und exotische Weltgegenden auslas -  gute Gespräche dabei. Architektur auf dem Tisch könnte da helfen!
               sen oder man äußerte sich klug zur dargestellten Architektur (Abb. 3).
                                                                             B  ewailing the decline of the dining culture is easy: fast food, to go and delivery serv-
               Architektonische Tafelaufsätze dienen der Wissensvermittlung     ices, the quick fulfilment of a basic human need – caloric intake – is a bitter reality.
                                                                             Despite countless cooking shows, slow-food movements and hyperactive preachers of
               Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird es auf den Tischen ernst: Keine fröhlichen Sze -  health, the sections in supermarkets offering packet, tin and frozen food are much larger
               nen mehr, die mutmaßlich zu munterem Geplapper anregten, sondern jetzt geht’s um  than those with fresh products. When reading highly elaborate restaurant reviews, we
               Beleh rung. Ganze Tempelanlagen, archäologisch abgesicherte Rekonstruktionen, prä -  take a nibble on a crisped up croissant. A person setting the table, and if it is only to eat
               zis proportionierte Säulen mit minutiös wiedergegebenen Kapitellen rückten auf die  a slice of bread and butter, is regarded as hopelessly antiquated and seems to have fallen
               Tische. Solche Bildungslandschaften wurden dann oft in Form eines antiken Zirkus ar -  out of time, which is meaninglessly squandered with such an activity. The pizza box is
               rangiert. 1805 ließ der König von Neapel in einer römischen Werkstatt einen über fünf  far more practical, maybe even more ecological in terms of energy efficiency. However,
               Meter langen Tischaufsatz mit den Tempeln von Paestum in tischgerechter Anordnung  table culture is not just a table set with various plates, glasses and cutlery on fine linen,
               herstellen (Abb. 8). Ägyptische Monumente aus Dendera, Philae, Edfu und Luxor aus  as we know it from more exquisite gastronomic establishments. The only purpose of a
               Sèvres-Biskuit porzellan bildeten im Jahr 1811 Aufsätze für eine 6,70 Me ter lange Tafel.  beautifully laid table is to celebrate the exquisite dishes, the artfully arranged exclusive
               Viele Architekten, auch Karl Friedrich Schinkel, entwarfen solche Desserts für die Ti -  ingredients and excellent wines. As a mere background. Table culture as it is understood
               sche ihrer Fürsten und überboten sich in Detailtreue, „edler Einfalt und stiller Größe“.  here and as it was understood for centuries, means more: The food itself fades into the
               Korkmodelle antiker, meist ruinöser Bauten ließen die Gedanken Richtung Vergäng -  background, is the “background noise” of what is actually important, namely conversa-
               lichkeit schweifen (Abb. 7). Carl May, der solche Korkmodelle in Aschaffenburg für die  tion. Table talk was the actual reason to bring together people at a table and entertain
               Tafel seines Fürsten herstellte, war nicht zufällig der Hofkon ditor. Die Modelle sind ent -  them. Besides good food and a well-considered seating arrangement this also requires
               sprechend auch als Küchengeräte inventarisiert worden. Den Höhepunkt dieser aufge -  further incentives of stimulative nature to get the conversation going and provide topics,
               tischten Architekturgeschichte bildet schließlich im frü hen 19. Jahrhundert der bedeu-  for example the topic of “architecture”. The fact that architects also design plates, cutlery,
               tende Pariser Koch Antoine Carème, der eine Weltge schichte der Architektur als Ti sch-  tea and coffee sets and have them produced in series is no news in the history of archi-
               aufsätze konzipierte  (Abb. 4). Danach  wird’s ruhiger und Tischaufsätze kommen   tecture. Under the pledge of the total work of art, a house should form an aesthetic entity
               offensichtlich aus der Mode, nur noch zu bestimmten Festlichkeiten fand Architektur  from the selected style and cubic volume through to door handles and table linen. In this
               auf den Tisch. Die Moderne pflegte dann den aufge räumten Tisch und das funktional  context, Henry von de Velde was one of the very big names, to whom we owe very beau-
               redu zierte Gedeck. Erst die Postmoderne  wagte sich in ihrem Wunsch, fiktional  tiful and functional designs  which are on a par  with those by specialist designers.
               anstelle von funktional zu sein, wieder an architektonische Tischaufsätze, wenn dies  Architects, who are not content with the development of pretty tableware but also want
               auch letzt lich eine nur kurzzeitige Mode blieb. Dennoch zeigen gerade die postmoder-  to use such objects to lay their ideas of good architecture on the table, lead us to a dif-
               nen  Klein archi tekturen für den  Alltagsgebrauch an, dass  Architektur  als wichtiges  ferent path. Robert Venturi’s tea and coffee set “Italian Village” (image 1) from 1984 is a
               Thema wahrgenommen wurde. Gleiches mag für die Zeit um 1800 gelten, als auch  graphic example: the sugar bowl is a small house with a saddle roof and muntin win-
               eine öffentliche Debatte um Wert, Nutzen und Bedeutung von Architektur  geführt  dows, the teapot is a medieval fortified tower, the cream jug resembles a model of
               wurde. Tischaufsätze sind ein Indikator dafür, dass über Architektur gespro chen wird,  Palazzo Strozzi and the coffee pot is a veritable Pantheon including an oculus in the lid!



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