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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS THEORIE • THEORY
ist das Foyer als Ort der Begegnung. Das offene, lichtdurchflutete Atrium mit seiner
großzügigen Treppe dient als Verteiler und zelebriert als lebendiger Marktplatz das
Miteinander von Lehrenden und Schülern. Mithilfe der Farbgestaltung gelingt es, die
einzelnen Schulbereiche zuzuordnen und Orientierung zu schaffen. So markieren bei-
spielsweise warme Orangetöne die Flächen der Grundschule, während frische Grün-
töne auf die Bereiche der weiterführenden Gemeinschaftsschule hinweisen. Die ge-
samte Schule wird durch stimulierende Farbtöne in eine lebendig-anregende Grund-
stimmung versetzt. Die individuelle Farbgestaltung verleiht den einzelnen Lernhäu-
sern Prägnanz und Eigenständigkeit. Mit seiner organischen, freien Bauform fügt sich
das neue Haus ganz selbstverständlich in die heterogen bebaute Umgebung ein. Der
terrassierte Baukörper positioniert sich selbstbewusst auf dem Gelände und nimmt,
angemessen in Maßstab und Volumen, Bezug zur Nachbarschaft auf. Die Gebäude-
form schafft fließende und differenzierte Außenräume, die für eine Verwebung von
Landschaft und Gebautem sorgen. Quasi als Herzstück des neuen Schulcampus
haben wir die „Agora“, einen Tiefhof, benannt nach dem Versammlungsplatz der
alten Griechen, entwickelt, der als Landschaftselement und Veranstaltungsort die bei-
den benachbarten Schulen zusammenbindet.
Lernlandschaften und Lernhäuser
Lageplan Schulcampus Filderstadt • Site plan: Filderstadt school campus
Damit kommen wir zum wichtigsten Aspekt, durch den sich die Gotthard-Müller-Schule
von herkömmlichen „Flurschulen“ unterscheidet: Lernlandschaften und offene, kom-
munikationsfördernde Strukturen prägen die innere Organisation entscheidend. Soge-
nannte Lernhäuser fassen das vielfältige Raumangebot, bestehend aus Klassen-, Grup-
pen- und Differenzierungsräumen, zusammen und stehen jeweils einer Klassenstufe zur
Verfügung. Die Raumanordnung entwickelte sich entsprechend den Grundüberlegungen
für das neu formulierte pädagogische Konzept und ermöglicht es dem Kollegium, die ge-
wünschte Methodenvielfalt zu praktizieren: Das bauliche Konzept erlaubt sowohl ge-
meinsames und soziales Lernen als auch Unterrichtsansätze für individualisiertes Ler-
nen, das die Unterschiedlichkeit der Schüler berücksichtigt. Dabei ist das Thema Trans-
parenz von großer Bedeutung; geschlossene, abgeschottete Klassenräume sucht man in
dieser Schule vergebens. Großformatige Fenster brechen die Klassen auf, öffnen sich zu
den geweiteten Flurzonen der Lernhäuser – wobei der Begriff des „Flurs“ gar nicht zu-
treffend ist. Jeder Ort im Haus kann in die pädagogische Arbeit miteinbezogen werden
und ist somit weit mehr als eine reine Erschließungszone. Mit größtmöglicher Offenheit
kann sich der Unterricht in diese Nachbarschaften, aber auch auf die Terrassen draußen
„ausbreiten“, sodass das Haus zu einem ganzheitlich belebten Organismus wird. Beson-
dere Aufmerksamkeit verdienen die Fachräume für die Bildende Kunst im obersten Ge-
schoss: Eine großzügige Dachterrasse ermöglicht es, den Unterricht in den Außenraum
zu verlagern, wobei der Blick auf die Landschaft der Filderebene sicherlich inspiriert.
Stimulierende Farben bieten Orientierung. • Stimulating colours provide direction Mehr als Fassade: Sitzmöbel und Lunge der Schule
Bei der Ausgestaltung der Klassenräume spielte vor allem das veränderte Verständnis
Die Fassaden: fest installierte Sitzgelegenheiten • The façades: permanently installed seating der Lehrenden eine Rolle. Sie sehen sich eher als Lernbegleiter denn als Frontalunter-
richtende. Die architektonische Umsetzung mündete in „wohnlichen Zimmern“, ausge-
stattet mit haptisch-warmen, wertigen Materialien – Linoleum, Holzwerkstoffe, akustisch
wirksame Deckenelementen. Die Fassade ist dabei mehr als der thermische Abschluss.
Wir haben diese als nutzbares Möbel interpretiert, das Sitzmöglichkeiten am Fenster bie-
tet, und als ein Element, das alle technischen Einbauten nahezu unsichtbar in sich auf-
nimmt. Verborgen hinter optisch ansprechenden Holzelementen befindet sich ein dezen-
trales Lüftungssystem mit integrierter Heizung und Kühlung. Das Haus beginnt sozusa-
gen, mit architektonisch relevanten Bauteilen zu „atmen“, ohne dass technische Instal-
lationen in Erscheinung treten. Blickt man von außen auf die Fassade, nimmt man die
fröhliche Farbkomposition wahr, die die Schule differenziert und ihr eine unverwech-
selbare Identität schenkt. Gelochte, farbige Metallplatten bilden den stimmungsvollen
Hintergrund für eine vertikale, vorvergraute Holzverschalung. Die geschwungene Form
des Baukörpers lässt je nach Blickwinkel ein spannungsreiches Wechselspiel an Farbin-
tensität entstehen. Die Vielzahl an Komponenten macht diese Schule einzigartig. Wir
hoffen, uns ist damit gelungen, was der britische Schriftsteller Oscar Wilde einst for-
derte: „Die Schule müsste der schönste Ort in jeder Stadt und in jedem Dorf sein, so
schön, dass die Strafe für undisziplinierte Kinder darin bestünde, am nächsten Tag nicht
in die Schule gehen zu dürfen.“
106 • AIT 5.2021