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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS THEORIE •  THEORY



                                                                          von • by Jens Fischer
                                                                          E  s war ein gefühlt sehr langer Weg für die Schulgemeinschaft der Gotthard-Mül-
                                                                             ler-Schule, bis am 14. September 2020 im Rahmen einer coronabedingt kleinen
                                                                          Einweihungsfeier das farbenfrohe neue Gebäude der Grund- und Gemeinschafts-
                                                                          schule eingeweiht werden konnte. Gefühlt lange, aber schulpolitisch und aus plane-
                                                                          rischer Sicht eigentlich ein eher kurzer Weg. 2011 legte die damals bundesweit erste
                                                                          grün-rote Landesregierung die Weichen zur Einführung von Gemeinschaftsschulen
                                                                          in Baden-Württemberg. Zum Schuljahr 2012/2013 gingen die ersten 41 Schulen dieses
                                                                          neuen Typs an den Start ‒ heute sind es 319. Das kam damals einer kleinen Revolu-
                                                                          tion gleich, denn zusammen mit Bayern stand der Südwesten jahrzehntelang für das
                                                                          klassische System der Teilung der Schullandschaft in Haupt-, Realschulen und Gym-
                                                                          nasien. Welcher Schüler auf welcher Schule landete, hing von den Leistungen,
                                                                          sprich Noten, der Kinder und der damals noch verpflichtenden Grundschulempfeh-
                                                                          lung in der vierten Klasse ab. Diese verbindliche „Empfehlung“ schaffte die Regie-
                                                                          rung ebenfalls zum Schuljahr 2012/2013 ab.

                                                                          Lernkonzept der Gemeinschaftsschule

                                                                          Aber was ist denn das vermeintlich Revolutionäre an dieser Schulart? Wer in eine Ge-
                                                                          meinschaftsschule kommt, der weiß manchmal nicht, ob gerade Unterricht oder Pause
                                                                          ist. Die Türen sind zumeist offen und die Flure sind geflutet mit Kindern, die einzeln an
                                                                          Tischen, zusammen in Gruppen oder wie in der Kinobestuhlung frontal auf den Lehrer
                                                                          schauen. Daher ist es auch wichtig, dass die Innenflure keine Fluchtwege sind, sondern
                                                                          für den Unterricht benutzt werden können. Die Gemeinschaftsschule darf nicht nur,
                                                                          sondern soll sogar jeder Schüler jeglichen Leistungsniveaus besuchen ‒ einschließlich
                                                                          inklusiver Schüler. Das heißt, dass auch Kinder mit sozialen, kognitiven oder körperli-
                                                                          chen Lernbenachteiligungen willkommen sind. Unterrichtet werden alle diese Kinder
                                                                          ‒ Achtung! ‒ im Klassenverbund. Dies ist auch der Hauptunterschied zu den zumeist
                                                                          zahlenmäßig großen Gesamtschulen in anderen Bundesländern, die auch alle Niveau-
            Durch die Außenterrassen als Fluchtwege ... • By using the outside terraces as escape routes ...  stufen unterrichten, aber die Level in Kurssystemen voneinander separieren. Lernin-
                                                                          halte werden als Input auch einmal für alle vermittelt, häufig sucht sich die Lehrerin
                                                                          aber kleine Teams, mit denen sie ein Thema bespricht. Eigentlich versteht sich die Lehr-
            ... sind Lernstraßen und -plätze variabel nutzbar. • ... learning streets and -squares can be variably used.  kraft an einer Gemeinschaftsschule weniger als Lehrer im klassischen Sinne, eher als
                                                                          Lernbegleiterin, die den Schüler anleitet, sich den Stoff selbst und auf seinem Niveau
                                                                          zu erarbeiten. Das führt dazu, dass Schüler A in Mathe auf dem grundlegenden Niveau
                                                                          arbeitet (G-Niveau), in Deutsch auf dem erweiterten Niveau (E-Niveau) und in Geogra-
                                                                          phie auf dem mittleren M-Niveau. Schüler A nutzt also bildlich gesprochen drei ver-
                                                                          schiedene Korbhöhen im Basketball ‒ seine Stärken darf er ausspielen, an seinen
                                                                          Schwächen arbeiten. Und das im Idealfall ohne Unter- oder Überforderung.


                                                                             „Der 2016 im Rahmen eines Wettbewerbs
                                                                                 vorgestellte Entwurf von Behnisch

                                                                           Architekten hat das pädagogische Konzept
                                                                                            mehr als erfüllt.“

                                                                                                Jens Fischer


            Blick in ein Lernatelier für individuelles Lernen. • View into a learning studio for individual learning.  Die Gotthard-Müller-Schule ist seit dem Schuljahr 2016/17 eine Grund- und Gemein-
                                                                          schaftsschule, hervorgegangen aus einer Grund- und Werkrealschule (früher Haupt-
                                                                          schule). Noch vor Start des neuen Schulkonzepts war klar, dass im alten, in den frü-
                                                                          hen 1970er Jahren erbauten Schulgebäude die neue Art des Unterrichtens kaum zu
                                                                          realisieren sein würde. Zudem fehlte eine Mensa sowie Ruhe- und  Kreativräume,
                                                                          da Gemeinschaftsschulen immer ganztägig beschulen. Ein Neubau musste her, aber
                                                                          einer, der das pädagogische Konzept versteht und aufgreift. Der 2016 im Rahmen
                                                                          eines Wettbewerbs vorgestellte Entwurf von Behnisch Architekten hat das mehr als
                                                                          erfüllt. Mit großer Begeisterung fiel die Wahl der Entscheider auf den Entwurf aus
                                                                          Stuttgart. Und die Freude hält bis heute an ‒ auch wenn Corona verhindert, dass der
                                                                          gesamte schöne Raum kreativ genutzt werden kann. Aber irgendwann wird das
                                                                          Virus weg sein, die Schule aber bleibt. Und wächst. Der Platz ist jetzt schon, ein Jahr
                                                                          nach der Eröffnung, zu klein. Mancher vorsichtig rechnende Stadtrat hatte nicht mit
                                                                          dem Erfolg des Konzepts gerechnet ‒ wir schon.

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