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Redings Essay




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               Ein Essay von Benjamin Reding
               L  ea würde ich nicht kennen, ich würde vor ihr weglaufen. Lea hat einen Hau. Und  Warum sie das machten, habe ich nicht verstanden. Lea wiederholte sowieso immer
                                                                             alles.  „Essen,  Essen,  Essen.  Insel,  Insel,  Insel.  Sonne,  Sonne,  Sonne.“  Total  be -
                  einen schiefen Mund. Und quatscht immer dasselbe. Und sie ist erst bloß sieben
               Jah re alt und ich bin schon fast Zehn. Und wegen ihr habe ich eine Narbe am Knie und  scheuert. Wenn ich schwimmen gegangen bin, lief Lea mir hinterher. Und wenn ich
               eine Schramme am Kopf. Trotzdem mag ich sie, jedenfalls ein bisschen, jedenfalls seit  ins Dorf gegangen bin auch. Dann haben sich die anderen Kinder lustig gemacht, Lea
               den Ferien: Am Küchentisch haben Mama und Papa gestanden und Papa hat geru fen:  nach gerufen und ihr an den Haaren gezogen. Und mich gefragt: „Du Bruder?“ „Nein,
               „Benny, in diesem Sommer machen  wir es anders,  wir gehen in kein Hotel,  wir  nein“, hab ich geantwortet und so getan, als würde ich Lea nicht kennen. Am Abend
               mieten uns ein Haus. In Griechenland, auf einer einsamen Insel im Mittelmeer. Und  wa ren wir in der Taverne am Hafen und Lea und ihre Eltern kamen mit. Auch Leas
               wir fahren auch nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug und dann mit der Fähre.  Mut ter fragte nach dem Kloster. Der Wirt hat wieder erschrocken geguckt und wieder
               Ein richtiges Abenteuer!“ Die Insel war klein und kreisrund und kahl wie eine Pizza  „Woh nen Geister!“ gesagt. Und Lea hat es gehört und von da an dauernd nachge-
               aus Stein. Der Vermieter hat uns am Hafen abgeholt und zu unserem Haus gebracht.  sprochen. „Wohnen Geister, wohnen Geister.“ Dann hat sie zu ihren Eltern rüber-
               Ganz weiß war das, mit blauen Stühlen davor und hölzernen Läden an den Fenstern.  geschaut und geweint. Am nächsten Tag sind meine Mama und mein Papa mit der
               Der Mann hat aufgeschlossen, die Läden aufgeklappt und gesagt: „Hier schön.“ Ne -  Fähre auf eine andere Insel gefahren. „Da gibt es einen wunderschönen Tempel“, hat
               ben unserem Haus standen noch ein Haus und noch eins. Da waren die Fensterläden  Ma ma gesagt und ihre Fotokamera eingepackt. Leas Eltern haben sie begleitet und
               aber alle zu. „Hoffentlich bleibt das so“, meinte                                       mich ermahnt. „Geht nicht zu weit vom Haus
               Papa. Meine Eltern zogen in das große Zimmer                                            weg.  Zum  Abendessen  sind  wir  wieder  da.“
               mit dem Fernseher und ich in das kleine. Das                                            Heimlich bin ich davongeschlichen, schwim -
               hatte ein Holzbett und eine Tür zum Garten. Auf                                         men gehen, aber Lea hat es gemerkt und ist
               dem Boden hockte eine Ei dechse, aber als ich                                           mir hinterherge laufen. „Wohnen Geis ter“, hat
               sie anfassen wollte, lief sie davon.                                                    sie gerufen. Zwan zig Mal. Dann hat sie wieder
               Die ersten Tage bin ich mit Mama und Papa auf                                           ängstlich ge guckt und geheult. Da hab ich sie
               der Insel herumgelaufen. Es gab einen Strand                                            an der Hand genommen, ihr in die Au gen ge -
               und einen riesigen Felsen gegenüber im Meer                                             guckt und ganz laut gesagt, „Es gibt keine Geis -
               und ein kleines Dorf mit noch mehr  weißen                                              ter, nirgends!“ und bin mit ihr den langen Weg
               Häu sern und blauen Stühlen. Auf einem Hügel                                            zur Ruine hochgegangen. Unten am Strand
               über dem Dorf standen alte Säulen und Mar -                                             mach ten die  Zikaden immer mächtig Lärm,
               morsteine. „Antik“, hat Mama gesagt und Fotos                                           aber hier oben waren sie still, nur den Wind
               davon gemacht. Und an der höchsten Stelle der                                           und das Meer hat man gehört. Der Kies weg
               Insel, richtig weit weg, gab es eine Kirche mit                                         hörte auf und es ging über steile Stufen weiter.
               Kup peln und einer Mauer drumherum, aber al -                                           Und dann haben wir die Ruine erreicht.
               les war leer und eingestürzt. „Zu weit weg“, hat                                        Die Kuppel der Kirche war halb eingestürzt und
               Mama gesagt und keine Fotos gemacht. Abends                                             die Eingangstür verrammelt. Zwischen den Bret -
               sind wir essen gegangen. In einer Ta verne am Foto: Dominik und Benjamin Reding         tern konnte ich hindurchschauen. Schum mrig
               Hafen. Nach Algen hat es gerochen und nach                                              war es dahinter und staubig und es hat gemieft,
               Diesel. Der Wirt hat uns die Karte gegeben. Ma -                                        wie in unserem Keller,  wenn es regnet. Und
               ma tippte mit dem Finger auf ein Bild mit Fisch                                         dann hat sich etwas bewegt. Ganz plötz lich. Was
               und bekam Tintenfischringe und Papa auf ein Bild mit Tintenfischringen und be kam  Großes, unter dem Schutt. Der Geist! Ich bin aufgesprungen und gelaufen und hab nicht
               Feta-Käse und ich auf ein Bild mit Pommes und bekam Bratkartoffeln. Der Wirt hat  mehr geguckt, wohin. Und dann hat es „Peng!“ gemacht und ich war weg. Schwarz,
               genickt und „lecker“ gesagt. „Was ist das da?“ Mama zeigte auf den Hügel mit der  dunkel, aus. Irgendwann hat mich wer gerüttelt und hochgezogen. Das Sonnenlicht hat
               Ruine. Da schaute der Wirt erschrocken, schüttelte den Kopf. „Monastiri. Ver las sen.  heftig geblendet. „Du bist in die alte Zisterne gefallen.“ Ein Mann mit Bart und langen
               Wohnen Geister!“ Eine  Woche  wohnten  wir schon auf der Insel, Papa las dicke  Haaren zeigte auf ein Loch im Boden. Er roch ein bisschen nach Rauch und Bier. „Alleine
               Bücher und rauchte Pfeife, Mama wanderte und machte Fotos und ich bin schwim-  wärst du da nicht mehr rausgekommen. Hast echt Glück, dass ich in der Kirche gepennt
               men gegangen. Als ich zu unserem Haus zurückkam, gab es Lärm. Die Fensterläden  hab. Mach ich jedes Jahr hier im Sommer. Eigentlich komme ich aus Stuttgart.“ Genickt
               am Nach bar haus waren offen und ein Mann und eine Frau und ein Kind standen vor  habe ich und Danke gesagt. „Nee, bei ihr musst du dich bedanken.“ Er schaute zu Lea
               der Tür. Ein Mädchen. Sie sah komisch aus. Knopfaugen und einen schiefen Mund  herüber. „Sie hat gerufen. Immer wieder. Woitiste me! Das ist Griechisch und heißt:
               hatte sie. „Das ist Lea“, erklärte die Frau. „Sag der Lea guten Tag.“ Ich mochte nicht.  Helfen Sie mir.“ „Oh“, sagte ich und dann „Danke, Lea.“ Da hat sie gelächelt. Ich glaube,
               Spä ter meinte Mama, ich soll nett zu dem Mädchen sein. Sie wäre krank, sie hätte  das erste Mal in diesem Urlaub. Wir haben ihm noch die Hand geschüttelt und sind
               etwas am Kopf, im Gehirn. „Das Mädchen kann nichts dafür.“ Leas Eltern haben mit  dann schnell zurück ins Dorf gelaufen. Abends sind unsere Eltern von der Fähre gekom-
               ihr immer einen Satz geübt, sie musste ihn nachsprechen. Ich hörte es bis nachts:  men. Mir haben sie Orangen mitgebracht und Lea Weintrauben. Von der Sache an der
               „Woitiste me.“ Immer wieder: „Woitiste me. Woitiste me.“      Ruine haben wir ihnen nichts erzählt. Die ma chen sich sonst viel zu viele Sorgen.



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