Page 26 - AIT1215_Leseprobe
P. 26

BANKEN UND BEHÖRDEN  •  BANKS AND AUTHORITY BUILDINGS THEORIE • THEORY
               RATHAUSSTREICH











               „Die Schildbürger bauen ein Rathaus“ –  ein architektonisches Dilemma. Aus dem Buch „Die Schildbürger“ von Erich Kästner
               Was beim Bau eines Rathauses alles schiefgehen kann, und wie doch noch alles ein gutes Ende nahm ...




































               In  dieser  Ausgabe  der AIT  stellen wir  Ihnen vorbildliche zeit - D  er Plan, das neue Rathaus nicht viereckig, sondern dreieckig zu bauen, stammte
                                                                                vom Schweinehirten. Er hatte, wie schon gesagt, den Sc hiefen Turm  von Pisa
               genössische Rathäuser  vor. Doch es ist keineswegs selbst ver -  erbaut, der mittlerweile eine Sehenswürdigkeit geworden war, und erklärte stolz: „Ein
               ständlich, dass diese Bauaufgabe gelingt. Was dabei alles schief-  dreieckiges Rathaus ist noc h viel sehenswerter als ein  schiefer Turm. Deshalb wird
               gehen  kann, zeigt  einer  der bekanntesten Schild bürgerstreiche,  Schilda noch viel berühmter werden als P isa!“ Die ander en hörten das mit großem
               nämlich der Bau des Rathauses zu Schilda. Ein plan- und kopf -  Behagen. Denn auch die Dummen werden gerne berühmt. Das war im Mittelalter nicht
               loses Unterfangen! Kurz: ein architektonisches Desaster! Erich  anders als heute. So gingen also die Schildbürger schon am nächsten Tag morgens um
               Kästner hat die aus dem 16. Jahrhundert stammenden schel -    sieben an die Arbeit. Und sechs Wochen später hatten sie die drei Mauern aufgebaut.
               mischen Geschichten der Bürger dieses Ortes in seinem Buch „Die  In der dem Marktplatz zugekehrten Breitseite war ein großes Tor ausge spart worden.
               Schildbürger“ nacherzählt. 1954 wurden die amüsanten Streiche  Und es fehlte nur noch das Dac h. Nun, auch das Dac h kam bald zu stande, und am
               erstmals im  Atrium  Verlag  verlegt. 1993 erschien die erste  Sonntag darauf fand die f eierliche Einweihung des neuen R athauses statt. Sämtliche
               Ausgabe des Dressler Verlags. Wie kam es nun aber dazu, dass  Einwohner erschienen in   ihren Son ntagskleidern und beg aben si ch, mit dem
               sich die Bürger von Schilda derart ungeschickt anstellten? Dazu  Schweinehirten an der  Spi tze, in das  weißgekalkte, d reieckige Ge bäude. Doc h sie
               muss man  wissen: ihre Dummheit hatte Kalkül. Denn die        waren noch nicht an der Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander, stolperten
               Bewohner von Schilda waren – ganz im Gegenteil – von Hause aus  über fremde Füße, traten irgendwem auf die Hand, stießen mit den Köpfen zusammen
               äußerst klug. Dies hatte zur Folge, dass die Männer als gefragte  und sc himpften  wie die R ohrspatzen. Die dr in  waren,  wollten  wieder her aus. Die
               Ratgeber der Könige und Kaiser allmählich in aller Herren Länder  draußen st anden,  wollten un bedingt hinein. Es g ab ein f ürchterliches Ge dränge!
               abwanderten. Da sich  Schilda auf diese Weise langsam, aber   Endlich landeten sie alle, wenn auch zerschunden und mit Beulen und blauen Flecken,
               sicher, entvölkerte (und entmannte), verfiel man schließlich auf  wieder im F reien, blickten einander ratlos an und f ragten aufgeregt: „Was war denn
               eine List. Die Schildbürger begannen sich dumm zu stellen – düm-  eigentlich los?“ Da kratzte sich der Schuster hinter den Ohren und  sagte: „In unserem
               mer als die Polizei erlaubt. Darin waren sie so erfolgreich und  Rathaus ist es finster!“ „Stimmt!“, riefen die andern. Als aber der Bäcker fragte: „Und
               überzeugend, dass sie letztlich für ihre Torheit ebenso berühmt  woran liegt das?“, wußten sie lange keine Antwort. Bis der Schneider schüchtern sagte:
               wurden wie einst für ihre Klugheit. Die Münchener Illustratorin  „Ich glaube, ich habe es.“ „Nun?“ – „In u nserem neuen Rathaus“, fuhr der Schneider
               und Gestalterin Cornelia von Seidlein hat Erich Kästners Text für  bedächtig f ort, „ist k ein Licht!“ Da s perrten s ie Mund u nd N ase auf  und  ni ckten
               uns in Bildern lebendig  werden lassen. Was die  von Miss -   zwanzigmal. Der Schneider hatte recht. Im Rathaus war es finster, weil kein Licht drin
               geschicken gespickte Geschichte des Selbstbaus auch lehrt: Mit  war! Am Abend trafen sie sich beim Ochsenwirt, tranken eins und beratschlagten, wie
               einem Architekten wäre das nicht passiert. In diesem Sinne wün-  man Licht ins R athaus hineinschaffen könne. Es  wurde eine ganze Reihe Vorschläge
               schen  wir allen Planungs beteiligten künftiger Rathäuser gutes  gemacht. Doc h sie g efielen i hnen ni cht be sonders. E rst nac h d em f ünften Glas
               Gelingen! Auch Negativ beispiele, wie der Bau des Rathauses zu  Braunbier fiel dem Hufschmied das Ri chtige ein. „Das L icht ist ein Ele ment wie das
               Schilda, können diesbezüglich eine Lehre sein ...             Wasser“, sagte er nachdenklich. „Und da man das Wasser in Eimern ins Haus tragen
                                                                             kann, sollten wir es mit dem Licht genauso machen!“ – „Hurra!“ riefen sie alle. „Das ist



               138  •  AIT 12.2015
   21   22   23   24   25   26   27   28   29   30   31