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BANKEN UND BEHÖRDEN • BANKS AND AUTHORITY BUILDINGS THEORIE • THEORY
RATHAUSSTREICH
„Die Schildbürger bauen ein Rathaus“ – ein architektonisches Dilemma. Aus dem Buch „Die Schildbürger“ von Erich Kästner
Was beim Bau eines Rathauses alles schiefgehen kann, und wie doch noch alles ein gutes Ende nahm ...
In dieser Ausgabe der AIT stellen wir Ihnen vorbildliche zeit - D er Plan, das neue Rathaus nicht viereckig, sondern dreieckig zu bauen, stammte
vom Schweinehirten. Er hatte, wie schon gesagt, den Sc hiefen Turm von Pisa
genössische Rathäuser vor. Doch es ist keineswegs selbst ver - erbaut, der mittlerweile eine Sehenswürdigkeit geworden war, und erklärte stolz: „Ein
ständlich, dass diese Bauaufgabe gelingt. Was dabei alles schief- dreieckiges Rathaus ist noc h viel sehenswerter als ein schiefer Turm. Deshalb wird
gehen kann, zeigt einer der bekanntesten Schild bürgerstreiche, Schilda noch viel berühmter werden als P isa!“ Die ander en hörten das mit großem
nämlich der Bau des Rathauses zu Schilda. Ein plan- und kopf - Behagen. Denn auch die Dummen werden gerne berühmt. Das war im Mittelalter nicht
loses Unterfangen! Kurz: ein architektonisches Desaster! Erich anders als heute. So gingen also die Schildbürger schon am nächsten Tag morgens um
Kästner hat die aus dem 16. Jahrhundert stammenden schel - sieben an die Arbeit. Und sechs Wochen später hatten sie die drei Mauern aufgebaut.
mischen Geschichten der Bürger dieses Ortes in seinem Buch „Die In der dem Marktplatz zugekehrten Breitseite war ein großes Tor ausge spart worden.
Schildbürger“ nacherzählt. 1954 wurden die amüsanten Streiche Und es fehlte nur noch das Dac h. Nun, auch das Dac h kam bald zu stande, und am
erstmals im Atrium Verlag verlegt. 1993 erschien die erste Sonntag darauf fand die f eierliche Einweihung des neuen R athauses statt. Sämtliche
Ausgabe des Dressler Verlags. Wie kam es nun aber dazu, dass Einwohner erschienen in ihren Son ntagskleidern und beg aben si ch, mit dem
sich die Bürger von Schilda derart ungeschickt anstellten? Dazu Schweinehirten an der Spi tze, in das weißgekalkte, d reieckige Ge bäude. Doc h sie
muss man wissen: ihre Dummheit hatte Kalkül. Denn die waren noch nicht an der Treppe, da purzelten sie auch schon durcheinander, stolperten
Bewohner von Schilda waren – ganz im Gegenteil – von Hause aus über fremde Füße, traten irgendwem auf die Hand, stießen mit den Köpfen zusammen
äußerst klug. Dies hatte zur Folge, dass die Männer als gefragte und sc himpften wie die R ohrspatzen. Die dr in waren, wollten wieder her aus. Die
Ratgeber der Könige und Kaiser allmählich in aller Herren Länder draußen st anden, wollten un bedingt hinein. Es g ab ein f ürchterliches Ge dränge!
abwanderten. Da sich Schilda auf diese Weise langsam, aber Endlich landeten sie alle, wenn auch zerschunden und mit Beulen und blauen Flecken,
sicher, entvölkerte (und entmannte), verfiel man schließlich auf wieder im F reien, blickten einander ratlos an und f ragten aufgeregt: „Was war denn
eine List. Die Schildbürger begannen sich dumm zu stellen – düm- eigentlich los?“ Da kratzte sich der Schuster hinter den Ohren und sagte: „In unserem
mer als die Polizei erlaubt. Darin waren sie so erfolgreich und Rathaus ist es finster!“ „Stimmt!“, riefen die andern. Als aber der Bäcker fragte: „Und
überzeugend, dass sie letztlich für ihre Torheit ebenso berühmt woran liegt das?“, wußten sie lange keine Antwort. Bis der Schneider schüchtern sagte:
wurden wie einst für ihre Klugheit. Die Münchener Illustratorin „Ich glaube, ich habe es.“ „Nun?“ – „In u nserem neuen Rathaus“, fuhr der Schneider
und Gestalterin Cornelia von Seidlein hat Erich Kästners Text für bedächtig f ort, „ist k ein Licht!“ Da s perrten s ie Mund u nd N ase auf und ni ckten
uns in Bildern lebendig werden lassen. Was die von Miss - zwanzigmal. Der Schneider hatte recht. Im Rathaus war es finster, weil kein Licht drin
geschicken gespickte Geschichte des Selbstbaus auch lehrt: Mit war! Am Abend trafen sie sich beim Ochsenwirt, tranken eins und beratschlagten, wie
einem Architekten wäre das nicht passiert. In diesem Sinne wün- man Licht ins R athaus hineinschaffen könne. Es wurde eine ganze Reihe Vorschläge
schen wir allen Planungs beteiligten künftiger Rathäuser gutes gemacht. Doc h sie g efielen i hnen ni cht be sonders. E rst nac h d em f ünften Glas
Gelingen! Auch Negativ beispiele, wie der Bau des Rathauses zu Braunbier fiel dem Hufschmied das Ri chtige ein. „Das L icht ist ein Ele ment wie das
Schilda, können diesbezüglich eine Lehre sein ... Wasser“, sagte er nachdenklich. „Und da man das Wasser in Eimern ins Haus tragen
kann, sollten wir es mit dem Licht genauso machen!“ – „Hurra!“ riefen sie alle. „Das ist
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