Page 27 - AIT1215_Leseprobe
P. 27
Foto: Dutch National Archives, Den Haag Erich Kästner Foto: Cornelia von Seidlein Cornelia von Seidlein
1953 geboren in München 1970-1976 Studium Grafik, Design, Kostüm/
1899 geboren in Dresden 1974 gestorben in München tätig als Schrift -
steller, Publizist, Drehbuchautor Kinder buch klassiker: Das doppelte
Bühnenbild, Malerei in München und London seit 1977 eigenes Atelier für
Lottchen, Das fliegende Klassenzimmer, Emil und die Detektive, ...
Grafik, Illustration und Gestaltung Kontakt www.corneliavonseidlein.de
Illustrationen: Cornelia von Seidlein, München
die Lösung!“ Am nächsten Tag hättet ihr auf dem Marktplatz sein müssen! Das heißt, Hagelkorn, groß wie ein Taubenei, aufs Nasenbein. Der Sturm riss fast allen die Hüte
ihr hä ttet g ar k einen P latz g efunden. Übe rall st anden Sc hildbürger mi t Sc haufeln, vom Kopf. Und sie rann ten durchnässt nach Hause, legten sich ins Bett, tranken heißen
Spaten, Besen und Mistgabeln und schaufelten den Sonnenschein in Eimer und Kessel, Fliedertee und niesten. Als sie am nächsten Tag mit warmen Tüchern um den Hals und
Kannen, Töpfe, Fässer und Waschkörbe. Andere hielten große, leere Kartoffelsäcke ins mit roten, geschwollenen Nasen zum Ochsenwirt kamen, um den Landstreicher zu fra-
Sonnenlicht, banden dann die Säcke geschwind mit Stricken zu und schleppten sie ins gen, was sie nun tun sollten, war er verschwunden. Da sie nun niemanden hatten, der
Rathaus. Dort banden sie die Säck e auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten ihnen hätte helfen können, versuchten sie es noch ein paar Wochen mit dem Rathaus
wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke von Neuem aufhielten und die ohne Dach. Als es dann aber gar zu schneien begann und sie wie die Schneemänner
Eimer und Fässer und Körbe wieder vollschaufelten. Ein besonders Schlauer hatte eine am Rathaustisch hockten, meinte der Schweinehirt: „Liebe Mitschildbürger, so geht es
Mausefalle auf gestellt u nd f ing das L icht in der F alle. So tr ieben si e e s bis z um nicht weiter. Ich beantrage, dass wir, mindestens für die na sse Jahreszeit, das Dac h
Sonnenuntergang. Dann wischten sie si ch den Sc hweiß von der Stirn und tr aten ge - wieder in Or dnung bringen.“ Sein Antrag wurde von allen, die sich er kältet hatten,
spannt durch das Rathaustor. Sie hielten den Atem an. Sie sperrten die Augen auf. Aber angenommen. Es waren die meisten. U nd so de ckten sie den Dachstuhl, wie vorher,
im Rathaus war es genauso dunkel wie am Tag zuvor. Da ließen sie die Köpfe hängen mit Ziegeln. Nun war es im Rathaus freilich wieder stockfinster. Doch diesmal wussten
und stolperten wieder ins Freie. Wie sie so auf dem Marktplatz herumstanden, kam ein sich die Schildbürger zu helfen. Sie steckten sich einen brennenden Holzspan an den
Landstreicher de s W eges und f ragte, wo e s denn f ehle. Sie er zählten ihm ihr Hut. Und wenn es auch nicht sehr hell war, so konnten sie einander doch wenigstens
Missgeschick und das s sie ni cht ein noc h aus wüssten. Er merkte, dass es mit ihrer ungefähr erkennen. Leider begannen die Spä ne nach einer Viertelstunde zu flackern.
Gescheitheit nicht weit her sein k onnte, und sa gte: „Kein Wunder, dass es in eurem Nach einer halben St unde roch es nach angebrannten Hüten. Und sc hon saßen die
Rathaus finster ist! Ihr müsst das Dach abdecken!“ Sie waren sehr verblüfft. Und der Männer, wie vor Monaten, im Dunkeln. Es war sehr still geworden. Sie schwiegen vor
Schweinehirt mein te: „Wenn dein R at gut sein so llte, darfst d u bei uns in Sc hilda lauter Er bitterung. P lötzlich r ief der Sc huster auf geregt: „Da! Ein L ichtstrahl!“
bleiben, solange du willst.“ „Jawohl“, fügte der Ochsenwirt hinzu, „und essen und Tatsächlich! Die Mauer hatte einen Riss bekommen, und durch ihn tanzte ein Streifen
trinken darfst du bei mir umsonst!“ Da rieb sich der Landstreicher die Hände, ging ins Sonnenlicht! Wie gebannt starrten sie auf den goldenen Gruß von draußen. „O wir
Wirtshaus und be stellte eine K albshaxe mit Kartoffelsalat und eine K anne Bier. Tags Esel!“, brüllte da der Schweinehirt. „Wir haben ja die Fenster vergessen!“ Dabei sprang
darauf deckten die Schildbürger das Rathausdach ab, und o Wunder! – mit einem Male er auf, fiel im Dunkeln über die Beine des Schmiedes und schlug sich an der Tischkante
war es im Rathaus sonnenhell! Jetzt konnten sie endlich ihre Ratssitzungen abhalten, drei Zähne aus. So war es. Sie ha tten tatsächlich die Fenster vergessen! Sie st ürzten
Schreibarbeiten erledigen, Gemeindewiesen verpachten, Steuern einkassieren und alles nach Hause, holten Spitzhacken, Winkelmaß und Wasserwaage, und noch am Abend
übrige besorgen, was während der Finsternis im Rathaus liegen geblieben war. Da es waren die ersten Fenster fix und fertig. So wurden die Schildbürger zwar nicht wegen
damals Sommer war und ein trockener Sommer obendrein, störte es nicht weiter, dass ihres dr eieckigen R athauses, sonde rn vielmehr wegen ihr er vergessenen F enster
sie kein Dac h über m Kopf hat ten. Und d er L andstreicher le bte auf ihre Kosten im berühmt. Es dauer te nicht lange, so k amen auch schon die e rsten Reisenden nach
Gasthaus, tafelte mittags und abends, was das Zeug hielt, und kriegte einen Bauch. Das Schilda, best aunten die Ein wohner, übernachteten und ließen über haupt ei n gutes
ging lan ge Zeit gut. B is im Her bst graue Wolken am Himm el heraufzogen und ein Stück Geld in der Stadt. „Seht ihr“, sagte der Ochsenwirt zu seinen Freunden, „als wir
Platzregen einse tzte. Es ha gelte so gar. Und die Sc hildbürger, die g erade in ihr em gescheit waren, mussten wir das Gel d in der Fremde verdienen. Jetzt, da wir dumm
Rathaus ohne Dach saßen, wurden bis auf die Haut nass. Dem Hufschmied sauste ein geworden sind, bringt man es uns ins Haus!“
Quelle: Text von Erich Kästner, Die Schildbürger bauen ein Rathaus, aus: Die Schildbürger © Atrium Verlag, Zürich 2004 (ISBN 978-3-85535-952-3)
AIT 12.2015 • 139