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Foto: Dutch National Archives, Den Haag   Erich Kästner      Foto: Cornelia von Seidlein  Cornelia von Seidlein



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                                     1899 geboren in Dresden 1974 gestorben in München tätig als Schrift -
                                     steller, Publizist, Drehbuchautor Kinder buch klassiker: Das doppelte
                                                                                                  Bühnenbild, Malerei in München und London seit 1977 eigenes Atelier für
                                     Lottchen, Das fliegende Klassenzimmer, Emil und die Detektive, ...
                                                                                                  Grafik, Illustration und Gestaltung Kontakt www.corneliavonseidlein.de























                                                                                                                                          Illustrationen: Cornelia von Seidlein, München















                die Lösung!“ Am nächsten Tag hättet ihr auf dem Marktplatz sein müssen! Das heißt,  Hagelkorn, groß wie ein Taubenei, aufs Nasenbein. Der Sturm riss fast allen die Hüte
                ihr hä ttet g ar k einen P latz g efunden. Übe rall st anden Sc hildbürger mi t Sc haufeln,  vom Kopf. Und sie rann ten durchnässt nach Hause, legten sich ins Bett, tranken heißen
                Spaten, Besen und Mistgabeln und schaufelten den Sonnenschein in Eimer und Kessel,  Fliedertee und niesten. Als sie am nächsten Tag mit warmen Tüchern um den Hals und
                Kannen, Töpfe, Fässer und Waschkörbe. Andere hielten große, leere Kartoffelsäcke ins  mit roten, geschwollenen Nasen zum Ochsenwirt kamen, um den Landstreicher zu fra-
                Sonnenlicht, banden dann die Säcke geschwind mit Stricken zu und schleppten sie ins  gen, was sie nun tun sollten, war er verschwunden. Da sie nun niemanden hatten, der
                Rathaus. Dort banden sie die Säck e auf, schütteten das Licht ins Dunkel und rannten  ihnen hätte helfen können, versuchten sie es noch ein paar Wochen mit dem Rathaus
                wieder auf den Markt hinaus, wo sie die leeren Säcke von Neuem aufhielten und die  ohne Dach. Als es dann aber gar zu schneien begann und sie  wie die Schneemänner
                Eimer und Fässer und Körbe wieder vollschaufelten. Ein besonders Schlauer hatte eine  am Rathaustisch hockten, meinte der Schweinehirt: „Liebe Mitschildbürger, so geht es
                Mausefalle auf gestellt u nd f ing das L icht in der  F alle. So tr ieben si e e s bis z um  nicht weiter. Ich beantrage, dass wir, mindestens für die na sse Jahreszeit, das Dac h
                Sonnenuntergang. Dann wischten sie si ch den Sc hweiß von der Stirn und tr aten ge -  wieder in Or dnung bringen.“ Sein  Antrag wurde von allen, die sich er kältet hatten,
                spannt durch das Rathaustor. Sie hielten den Atem an. Sie sperrten die Augen auf. Aber  angenommen. Es waren die meisten. U nd so de ckten sie den Dachstuhl, wie vorher,
                im Rathaus war es genauso dunkel wie am Tag zuvor. Da ließen sie die Köpfe hängen  mit Ziegeln. Nun war es im Rathaus freilich wieder stockfinster. Doch diesmal wussten
                und stolperten wieder ins Freie. Wie sie so auf dem Marktplatz herumstanden, kam ein  sich die Schildbürger zu helfen. Sie steckten sich einen brennenden Holzspan an den
                Landstreicher de s W eges und f ragte,  wo e s denn f ehle. Sie er zählten ihm ihr  Hut. Und wenn es auch nicht sehr hell war, so konnten sie einander doch wenigstens
                Missgeschick und das s sie ni cht ein noc h aus  wüssten. Er merkte, dass es mit ihrer  ungefähr erkennen. Leider begannen die Spä ne nach einer Viertelstunde zu flackern.
                Gescheitheit nicht weit her sein k onnte, und sa gte: „Kein Wunder, dass es in eurem  Nach einer halben St unde roch es nach angebrannten Hüten. Und sc hon saßen die
                Rathaus finster ist! Ihr müsst das Dach abdecken!“ Sie waren sehr verblüfft. Und der  Männer, wie vor Monaten, im Dunkeln. Es war sehr still geworden. Sie schwiegen vor
                Schweinehirt mein te: „Wenn dein  R at gut sein so llte, darfst d u bei uns in Sc hilda  lauter Er bitterung. P lötzlich r ief  der Sc huster auf geregt:  „Da!  Ein L ichtstrahl!“
                bleiben, solange du willst.“ „Jawohl“, fügte der Ochsenwirt hinzu, „und essen und  Tatsächlich! Die Mauer hatte einen Riss bekommen, und durch ihn tanzte ein Streifen
                trinken darfst du bei mir umsonst!“ Da rieb sich der Landstreicher die Hände, ging ins  Sonnenlicht! Wie gebannt starrten sie auf  den goldenen Gruß von draußen. „O wir
                Wirtshaus und be stellte eine K albshaxe mit Kartoffelsalat und eine K anne Bier. Tags  Esel!“, brüllte da der Schweinehirt. „Wir haben ja die Fenster vergessen!“ Dabei sprang
                darauf deckten die Schildbürger das Rathausdach ab, und o Wunder! – mit einem Male  er auf, fiel im Dunkeln über die Beine des Schmiedes und schlug sich an der Tischkante
                war es im Rathaus sonnenhell! Jetzt konnten sie endlich ihre Ratssitzungen abhalten,  drei Zähne aus. So  war es. Sie ha tten tatsächlich die Fenster vergessen! Sie st ürzten
                Schreibarbeiten erledigen, Gemeindewiesen verpachten, Steuern einkassieren und alles  nach Hause, holten Spitzhacken, Winkelmaß und Wasserwaage, und noch am Abend
                übrige besorgen, was während der Finsternis im Rathaus liegen geblieben war. Da es  waren die ersten Fenster fix und fertig. So wurden die Schildbürger zwar nicht wegen
                damals Sommer war und ein trockener Sommer obendrein, störte es nicht weiter, dass  ihres dr eieckigen R athauses, sonde rn  vielmehr  wegen ihr er  vergessenen F enster
                sie kein Dac h über m Kopf hat ten. Und d er L andstreicher le bte auf  ihre Kosten im  berühmt. Es dauer te nicht lange, so k amen auch schon die e rsten Reisenden nach
                Gasthaus, tafelte mittags und abends, was das Zeug hielt, und kriegte einen Bauch. Das  Schilda, best aunten die Ein wohner,  übernachteten und ließen über haupt ei n  gutes
                ging lan ge  Zeit gut. B is im Her bst graue Wolken am Himm el heraufzogen und ein  Stück Geld in der Stadt. „Seht ihr“, sagte der Ochsenwirt zu seinen Freunden, „als wir
                Platzregen einse tzte. Es ha gelte so gar. Und die Sc hildbürger, die  g erade in ihr em  gescheit waren, mussten wir das Gel d in der Fremde verdienen. Jetzt, da  wir dumm
                Rathaus ohne Dach saßen, wurden bis auf die Haut nass. Dem Hufschmied sauste ein  geworden sind, bringt man es uns ins Haus!“


                Quelle: Text von Erich Kästner, Die Schildbürger bauen ein Rathaus, aus: Die Schildbürger © Atrium Verlag, Zürich 2004 (ISBN 978-3-85535-952-3)
                                                                                                                              AIT 12.2015  •  139
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