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WOHNEN  •  LIVING

































           WOHN-/KREATIVLABOR BRUJ

           IN QUÉBEC


           Entwurf • Design Studio Jean Verville Architectes, CA-Québec



           Dieses Wohnexperiment von Jean Verville oszilliert zwischen Kuriosi-
           tätenkammer und „bewohnbarem Kreativlabor“: Hoch oben in einem
           monumentalen Wohnturm aus den 1970er-Jahren filterte er die bruta-
           listische Architektur durch eine ätherische Designsprache voller Trans-
           parenz und Reflexionen und verlieh dem Apartment auf alchimistische
           Weise eine rohe, industrielle Ästhetik, die jeden zum Staunen bringt.



           von • by Janina Poesch
           Ü   ber 20 Geschosse ragt der Turm, der einst vom Architekten Marcel Bilodeau entwor-
               fen wurde, in die Höhe. In der Nachbarschaft befinden sich vorwiegend Einfamili-
           enhäuser, was ihn zu einer Art Landmarke macht – weithin sichtbar und mit wahrlich
           spannender Aussicht: auf die Parkanlagen der Abraham-Ebene, den Sankt-Lorenz-Strom
           und die Laurentinischen Berge. Wobei das spektakuläre Naturschauspiel einen absoluten
           Kontrast zum Innenraum bildet. Denn hier dominieren vor allem Beton, Edelstahl, ver-
           spiegelte Oberflächen und Glas. Die Assoziation zu einem Labor liegt also nahe und ist
           durchaus gewollt: Für Jean Verville ist die Wohnung eine Fallstudie dafür, wie selbst die
           sterilste Umgebung in einen komfortablen Wohnraum verwandelt werden kann. Dazu
           musste er den Bestand jedoch zunächst komplett entkernen. Übrig blieb ein Rohbeton-
           monolith mit Öffnungen im Norden und im Süden. Um diese Licht- und Blickachse nicht
           unnötig zu verbauen, zog er Glasschiebewänden ein – entstanden ist ein stimmiger Raum
           mit sechs unterschiedlichen Konfigurationen. Bei Bedarf sorgen Metalljalousien für Privat-
           sphäre. Das Herzstück der 79 Quadratmeter großen Fläche bildet ein offener Wohnbereich
           mit Lounge und Küche, deren zwei Edelstahltheken einen gelungenen Konterpart zu den
           rauen Betonwänden und -decken bilden. Während sich im Norden die privaten Berei-
           che wie Schlaf- und Ankleidezimmer, Bad und Hauswirtschaftsraum befinden, sind im
           Süden ein überdachter Balkon und ein kleiner Arbeitsraum angeordnet. Minimalistische
           Metallmöbel unterstreichen die schlichte Eleganz, sichtbare Kabel, Rohre und Wasserlei-
           tungen betonen die industrielle Ästhetik. Zwei knallgelbe Leuchten und ein rostrotes Sofa
           setzen zudem verspielte Akzente. In der gesamten Wohnung dienen offene Vitrinen aus
           Metall und Glas als Aufbewahrungs- und Ausstellungsfläche, und es wird eine Auswahl an
           Gebrauchsgegenständen aus Vervilles Leben präsentiert: Glasfläschchen aller Art, Modelle
           und verschiedene Experimente, Kleidung, Geschirr und Topfpflanzen. So lässt der Archi-
           tekt den Geist des Kuriositätenkabinetts wieder aufleben, und es entsteht eine Inszenie-
           rung, die mit dem Alltäglichen spielt und gleichzeitig zum neugierigen Entdecken einlädt.

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