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Anna Philipp



                                     1974 geboren 1995–1999 Architekturstudium FH Stuttgart und ETH Zürich 1999 Diplomarbeit Seminar Burgruine Helfenstein bei Prof. Peter Haas; Architekturpreis des BDB B-W 2000 Mitarbeit
                                     Solimann und Zurkirchen, Zürich 2001 Mitarbeit im Büro Prof. Schnebli, Ammann, Menz, Zürich; Wettbewerb Umbau und Neubau Gewerbliche Schule in Ziegelbrücke, Schweiz, 1. Preis seit
                                     2002 Architektin bei Philipp Architekten seit 2005 Geschäftsführerin von Philipp Architekten seit 2012 Lehrbeauftragte an der Hochschule für Technik, Stuttgart seit 2015 Mitglied im BDA




                nur ein paar Leute. Doch es zählt nur der Blick auf Gott, der hier erfahrbar ist. Ein
                bisschen wie ein Raum außerhalb von Raum und Zeit. In Zusammenarbeit mit
                einem Schweizer Textilausstatter  wurde der Raum mit der weißen, semitransparen-
                ten und aus Papier bestehenden flexibel gestaltbaren Wandverkleidung Reverso aus-
                gekleidet. Diese zarte Hülle ermöglicht es, durch Licht unterschiedliche Stimmungen
                zu erzeugen, und schafft ein erhabenes Ambiente, als ob Himmel und Erde sich an
                diesem Ort begegnen würden. Anna Philipp und ihr Team vom Büro Philipp Archi-
                tekten haben in kongenialer Zusammenarbeit mit Dr. Johannes Hartl, dem Leiter des
                Gebetshauses, jeden einzelnen Raum einer individuellen Gestaltung unterworfen.
                So wurde aus einer monotonen, in die Jahre gekommenen Gewerbeimmobilie ein
                vor Originalität sprühender Ort der Schönheit und Anbetung. Der Neubau des zwei-
                ten Bauabschnitts bildet mit seinen unterschiedlich groß gestaffelten, differenzierten
                weißen Kuben einen Kontrapunkt zur klaren geometrischen Form des Bestandsge-
                bäudes. Dass moderne Tapeten nicht nur für die Gestaltung von Innenräumen ge-
                eignet sind, zeigt die mit einer lebhaften Außentapete gestaltete Fassade dieses Bau-
                körpers. Wie die Kirche das Zentrum klassischer Klosteranlagen, markiert ein leb-
                haftes Muster von Rauten den zentralen Ort des 24-Stunden-Gebets. Die „Prayer
                Homes“ genannten Gästezimmer in den weißen Kuben ermöglichen das Wohnen auf
                Zeit. Ähnlich einem Kloster bietet das Gebetshaus seinen Gästen die Option, für
                einen selbst gewählten Zeitraum eine Auszeit aus dem Alltag zu nehmen, um im
                Gebet und in Kontemplation gemeinsam mit den festangestellten Mitarbeitern, den
                sogenannten Gebetshausmissionaren, die Gegenwart Gottes zu suchen.

                Überraschende und unerwartete Szenarien

                Jedes einzelne „Prayer Home“ hat sein eigenes individuelles Gestaltungsthema. Die
                Grundlage für die Zimmergestaltung bilden jeweils die Bilder und Kunstwerke, von
                denen sich die jeweilige Farbauswahl oft extravagant, aber dennoch harmonisch ab-
                leitet.  Vom rosa-blauen  Zimmer  mit ausgestopfter Ente über das salbeigrün-  Herz des Zentrums – der Gebetsraum in Weiß und Gold • Heart of the centre – the prayer room in white and gold
                schwarze Zimmer mit den vielen Fenstern bis hin zur sogenannten „Bischofssuite“
                in elegantem Grau mit Blick in die mächtigen Baumkronen des Gartens reicht dabei  Selbst der neue Besprechungsraum überrascht. • Even the new meeting room surprises.
                die Bandbreite. Jedes der liebevoll gestalteten Zimmer ist definitiv einen Aufenthalt
                wert. Aber nicht nur die Gästezimmer bestechen durch Individualität und teils exo-
                tische Innenarchitektur, auch in den restlichen Gebäudeteilen finden sich immer
                wieder überraschende und unerwartete Szenarien: So führt der Weg zu den Zimmern
                beispielsweise durch einen Blumenflur, dessen Boden, Wände und Decke mit floralen
                Motiven dekoriert sind und so eine Art Blütentunnel bilden. „Don’t forget to play“,
                ist einer der Grundwerte des Hauses, denn lustlose Griesgrame gäbe es ohnehin
                schon reichlich, wenn es um Religion geht, so Johannes Hartl. Spielerisches, Ironi-
                sches und Halbernstes findet sich an vielen Orten im Gebetshaus, nicht zuletzt in den
                mitunter skurrilen Dekogegenständen. Ernsthafter geht es in der Kapelle zu. Dem in
                helles Gold und Weiß gehüllten Gebetsraum, welcher Tag und Nacht mit lebendigem,
                lautem Gebet erfüllt ist, steht ein würfelförmiges, ganz in Schwarz gehaltenes Orato-
                rium als ein Ort der Stille und Kontemplation gegenüber. Dunkle Räuchereiche am
                Boden zieht sich über das Chorgestühl hinaus die Wände hoch. Zentral im Raum
                hängt ein großes goldenes Kruzifix und zieht die Blicke der Andächtigen auf sich. Le-
                diglich ein schmales Fenster in der obersten Wandecke lässt einen dünnen Lichtstrahl
                in den dunklen Raum fallen und fokussiert Christus am Kreuz. Es braucht Zeit, ein
                Verweilen, bis das Auge langsam eine freie Struktur auf der schwarzen Wand ent-
                deckt: Filzblüten in Dunkelgrau und Blau, welche die Stringenz des Raumes durch-
                brechen und den goldenen Jesus sanft umrahmen. Ein Ort voller Andacht, der dem
                Allerheiligsten gleicht und sich wie ein modern interpretiertes Zitat einer klassi-
                schen Kapelle liest. Doch er ist nur eine ruhige Insel inmitten des sonst vor Leben
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