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Entwurf • Design KM Architekten, Kassel
                                                                           Bauherr • Client KMK Projektplan GmbH & Co. KG, Kassel
                                                                           Standort • Location Leipziger Straße 99, Kassel
                                                                           Nutzfläche • Floor space 4.237 m  2
                                                                           Fotos • Photos Katharina Jaeger, Edertal-Bergheim
                                                                           Mehr Infos auf Seite • More infos on page 142






























             Im Bereich des Sprungturms steht jetzt ein Besprechungsraum und die ehemalige Tribüne dient als Ausstellungsfläche. • Instead of the diving tower, there is now a meeting room and the former stands serve as an exhibition area.



             von • by Kira Sophie Kawohl
             W     aschen ist gut, Baden ist besser, Schwimmen ist das Allerbeste – so lautete das  pflege erfahrenen Planer mit großem Respekt vor der historischen Substanz. Die Du-
                                                                           schen, Toiletten und Heizkörper sowie nachträglich eingefügte Deckenverkleidungen
                   Motto, unter dem der ehemalige Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheide-
             mann – bekannt als Reichsministerpräsident zur Zeit der Weimarer Republik – am 15.  des Altbestands wurden sorgsam entfernt und eine neue Innendämmung verbaut,
             Juni 1930 das neue Volksbad in Kassel-Bettenhausen eröffnete. Wenige Monate zuvor  durch die eine minimalinvasive energetische Anpassung ohne sichtbare Beeinflussung
             konnten die Architekten Ernst Rothe und Hermann Jobst den streng kubischen Back-  des Außenbaus möglich war. Das einstige Schwimmbecken hat man durch die Einbrin-
             steinbau fertigstellen. Typisch für die Stadtbäder dieser Epoche ist die parallel zum Ver-  gung von Beton verschlossen und als Multifunktionsfläche ausgewiesen. Im hinteren
             lauf des Schwimmbeckens ausgerichtete, dreiachsige Anlage, deren Hauptfassade an  Drittel dieser Fläche ist eine deckenhohe, über alle Ebenen laufende Glaswand einge-
             der Kopfseite des Baus durch ein Eingangsportal in leichter Rücklage und breite, durch-  zogen, die den Raum in zwei Bereiche separiert: eine offene Halle, die im vorderen Ab-
             laufende Fensterbänder charakterisiert wird. Seit 1977 ist das größte Beispiel für Kas-  schnitt als Eventlocation vermietet wird, sowie die hinter der Glaswand auf drei Ebe-
             seler Bauhausarchitektur als hochrangiges Einzeldenkmal geschützt – ein Status, der  nen eingerichteten Büroräume, in denen auch die neuen Arbeitsplätze von KM Archi-
             seither für den städtischen Träger problematisch war, da die Motive für eine denkmal-  tekten untergebracht sind. Als verbindendes Element zwischen beiden Bereichen fun-
             gerechte Instandsetzung in den letzten Jahrzehnten analog zu den Besucherzahlen zu-  giert ein mittig positionierter Holzeinbau als Besprechungszimmer, das sich wie eine
             sehends schwanden. Im Jahr 2007 kam es zur Stilllegung des Badbetriebes und Veräu-  Kammer der Badeaufsicht über ein breites Fenster zur Schwimmhalle hin öffnet.
             ßerung der bereits baufälligen Immobilie. Infolge gescheiterter Umnutzungsversuche
             und aufgeschobener Renovierungsmaßnahmen entwickelte sich das einstige Hallen-  Neuinterpretation mit Referenz zur früheren Nutzung
             bad Ost – wie die Sportstätte seit den 1970er-Jahren hieß – in den Folgejahren zu einer
             desolaten Ruine. Erst ihr Erwerb durch die drei Kasseler Architekten Keivan Karam-  In allen Bereichen sind die charakteristischen Elemente des ehemaligen Hallenbads
             pour, Thomas Meyer und Marc Köhler im Jahr 2018 setzte dieser Entwicklung ein Ende.  bewahrt worden – die wasserblaue keramische Verkleidung der Wandpfeiler, rutschfe-
                                                                           ste Bodenfliesen und Einstiegshilfen am Beckenrand erinnern an die frühere Nutzung.
             Wiederbelebung durch vielseitiges Nutzungskonzept             Mit kleinen Details, wie kreisrunden Leuchten, tropfenförmigen Fenstern oder wasser-
                                                                           abweisenden Plastikstühlen referenzieren die Architekten augenzwinkernd das
             Im Unterschied zu den vorangegangenen Nutzungskonzepten, berücksichtigten die Pro-  Schwimmthema. Doch die Übernahme des Baudenkmals durch sachkundige Projekt-
             jektentwickler – allesamt Kollegen im Planungsbüro KM Architekten – die wichtige Si-  entwickler zeigt noch mehr: Der Sprung ins kalte Wasser hat sich gelohnt! Durch den
             gnalfunktion, die das Objekt durch seine Lage an der Schnittstelle zwischen Innenstadt  beherzten Erwerb einer verfallenen Immobilie konnte ein verloren geglaubter Ort und
             und industriell geprägtem Kasseler Osten ausmachte. Neben der Einrichtung von Miet-  ein Stück lokale Identität wiederbelebt werden. Zeitgemäße Interventionen übersetz-
             büros und Arztpraxen im Bereich der früheren Umkleidekabinen und Wannenbäder in  ten das geschichtsträchtige Gebäude aus den weit zurückliegenden Tagen der Weima-
             den Seitenflügeln, beinhaltet die neue Nutzung einen multifunktionalen Eventspace in  rer Republik in die Jetzt-Zeit. Insgesamt deckten die Architekten dadurch eine große
             der ehemaligen Schwimmhalle sowie eine Ausstellungsfläche im Bereich der einstigen  Bandbreite zukunftsweisender Themen ab – die Wahrung des Bestands, nachhaltiges
             Zuschauertribüne im ersten Obergeschoss. Der umliegende Park wird für Veranstaltun-  und denkmalgerechtes Bauen sowie energieeffizientes Sanieren, aber auch den krea-
             gen und gastronomische Angebote geöffnet. Schlüsselmoment des Entwurfs ist die Bei-  tiven Umgang mit künftiger Stadtentwicklung. Im ehemaligen Hallenbad Ost sind der-
             behaltung aller wesentlichen baulichen Elemente aus der vorangegangenen Nutzung.  zeit alle Büros und Veranstaltungsflächen vermietet oder regelmäßig ausgebucht –
             Die ursprüngliche Grundrissdisposition der Halle mit zentralem Becken und mittig po-  sogar die documenta fifteen wird im Jahr 2022 einige Ausstellungen hier abhalten. Ge-
             sitionierter Treppenanlage ist daher weitestgehend erhalten geblieben. Im Zuge der er-  treu des Eröffnungsmottos Philipp Scheidemanns könnte man also abschließend fest-
             folgten Sanierungs- und Umbaumaßnahmen agierten die im Bereich der Denkmal-  stellen: Entwerfen ist gut, Bauen ist besser, Erhalten ist das Allerbeste!

                                                                                                                            AIT 4.2022 • 121
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