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Entwurf • Design Civic Architects, NL-Amsterdam
                                                                           Bauherr • Client Stadt Waalwijk, Taxandriaweg 6
                                                                           Standort • Location Raadhuisplein 1, NL-Waalwijk
                                                                           Nutzfläche • Floor space 3.200 m 2
                                                                           Fotos • Photos Stijn Bollaert, NL-Gent
                                                                           Mehr Infos auf Seite • More infos on page 134






























             Im Herzen von Waalwijk: Blick auf den Rathausplatz • In the heart of Waalwijk: view of the town hall square  Tresen aus Hanfkalk, Shopwände aus Keramik • Counters made of hemp lime, shop walls made of ceramics



             von • by Annette Weckesser
             W     aalwijk und das Gebiet „de Langstraat“ in der Provinz Noord-Brabant bildeten  storischen Gebäude der Umgebung entdecken. Hemmschwellen haben die Architekten
                                                                           tunlichst vermieden, denn das Schuhmuseum ist für unterschiedliche Zielgruppen konzi-
                   jahrhundertelang das Zentrum der niederländischen Schuh- und Lederindustrie.
             Einst war dieses Metier die Wirtschaftsgrundlage und der Stolz der Region. Heute ist der  piert. Internationale Modeexperten sollten sich davon ebenso angesprochen fühlen wie
             tradierte Handwerks- und Industriezweig im Zuge der Globalisierung verschwunden,  Familien. Die Atmosphäre eines White Cube schlossen Civic Architects deshalb explizit
             selbst wenn es in der 50.000-Einwohner-Stadt noch einige kleinere und größere Schuh-  aus. Stattdessen griffen sie auf bekannte, alltägliche und vertraute Materialien zurück, die
             Labels gibt. Aber: Waalwijk hat ein Schuh- und Ledermuseum im Schoenenkwartier, dem  darüber hinaus langlebig sind. Ziegelstein, Stahl, Beton und Holz prägen die neuen Be-
             Schuhviertel. Gegründet wurde dieses 1954, und es ist eine Kombination aus Museum  reiche, die mit dem Bestand und seinem Genius Loci korrespondieren. Im Erdgeschoss
             und Innovationszentrum. Dort gibt es neben Ausstellungen eine Bibliothek, Designwerk-  sind Teile des Bodens gepflastert. Damit hält der robuste Belag förmlich mit dem Boden
             stätten sowie Konferenz- und Präsentationsräume. Das Schoenenkwartier befindet sich  des Rathausplatzes Schritt. Welchen Dienst solide Materialien der Architektur noch Jahr-
             mitten im Herzen der Stadt, im imposanten Backsteinkomplex des Waalwijker Rathauses.  zehnte später erweisen, demonstrierte Kropholler schon lange zuvor.
             Das „Raadhuis ensemble“ gilt als eines der bedeutendsten Werke des Architekten Alex-
             ander Kropholler (1881–1973) und stammt aus den 1930er-Jahren. Realisiert wurde es in  Reuse, reduce, recycle – in Architektur und Schuhdesign
             mehreren Bauphasen; in den 1980er-Jahren hat man das historische Erbe um einen Bü-
             rotrakt erweitert. Die jüngste Intervention stammt aus dem vergangenen Jahr: Civic Archi-  Der zentrale multifunktionale Tisch im Eingangsbereich ist aus dem ökologischen Ver-
             tects haben den gewachsenen Bestand umgebaut, renoviert und erweitert.  bundbaustoff Hanfkalk gefertigt. Aus recycelten PET-Flaschen entstand der künstliche Filz
                                                                           für die Bekleidung der Decken im Foyer und in der Bibliothek. Zusammen mit der Agentur
             Zum Öffentlichen Gebäude des Jahres 2022 gekürt               La-Di-Da entstanden die Keramikwände, die im Shop die Blicke auf sich ziehen. Innova-
                                                                           tive Technologien, Upcycling und Handwerkskunst gehen im Waalwijker Schuhmuseum
             Unlängst wurde das Schuhmuseum der Amsterdamer Architekten zum „Öffentlichen Ge-  Hand in Hand: Während die Keramikformen aus dem 3D-Drucker stammen, kamen Ab-
             bäude des Jahres 2022“ in den Niederlanden gekürt. Für diese Auszeichnung sprachen  fallprodukte aus Glasurprozessen zum Einsatz. Der Prototyp der Keramikwand wurde mit
             gleich mehrere Gründe: der Dialog mit dem denkmalgeschützten Bestand, die soziale Re-  dem Keramikstudio Cor Unum entwickelt und zum Teil von Erwerbslosen produziert.
             levanz, der Respekt vor dem Handwerk und der Innovationsgeist des Projekts. Die Jury  SchülerInnen der SintLucas Gesangsschule entwarfen die Lederkissen für das Auditorium,
             lobte insbesondere den Dialog des Neuen mit dem Alten. Zugunsten der Nachhaltigkeit  und lokale Betriebe fertigten die Möbel für die Büros. Abgesehen von der Ausstellung
             und aus finanziellen Gründen hatten die Architekten beschlossen, die Struktur des Büro-  selbst bietet das Museum mit seinen offenen Design- und Manufakturwerkstätten Schü-
             traktes zu erhalten. Der einstige Außenraum zwischen dem Office-Flügel und dem Krop-  lerInnen, StudentInnen, DesignerInnen und Geschäftsleuten auch die Möglichkeit, selbst
             holler-Erbe wurde von den Architekten überdacht, sodass eine lichte Halle mit Glasfas-  aktiv zu werden. In den Testboxen können junge BesucherInnen mit Materialien experi-
             sade entstand. Vom Rathausplatz aus ist dieser Eingriff zwar sichtbar; als neuer Teil des  mentieren. Sie können ausprobieren, wie es sich in High Heels, auf Plateausohlen und in
             imposantem Backstein-Ensembles hält sich dieser jedoch dezent zurück. Der neue Luft-  Schuhen aus sämtlichen Kontinenten läuft. Das progressive DesignerInnen-Duo Petersen
             raum verbindet drei Geschosse. Um Sichtbeziehungen zu schaffen, wurde die Fassade  Stoop demonstriert vor Ort, wie sich Sneaker upcyceln lassen, und im Materiallager kön-
             des Büroflügels komplett entfernt. Große, runde Öffnungen bilden jetzt eine markante in-  nen traditionelle und alternative Materialien entdeckt, studiert und angefasst werden –
             nere Fassade, die vielfältige Sichtbeziehungen eröffnet. Die kreisförmigen Durchblicke in-  vom Kuhmagen über Haifischhaut bis zu Bio-Materialien. Die für die lokale Identität nach
             terpretieren laut Civic Architects die Arkaden des alten Rathauses, ohne diese exakt zu  wie vor wichtige Tradition der Schuhfabrikation hat mit dem jüngst erweiterten Schuh-
             kopieren. Über die großen historischen Rundbogenfenster ist das Erdgeschoss von außen  museum einen neuen kollektiven Ort gefunden. Und dieser wird vom Publikum offenbar
             einsehbar. Umgekehrt lassen sich beim Blick nach draußen der Rathausplatz und die hi-  sehr gut angenommen. Denn Schuhe waren schon immer ein Teil der Lebenskultur.

                                                                                                                           AIT 1/2.2023 • 115
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