Page 56 - AIT1117_E-Paper
P. 56

Redings Essay


               SEID UMARMT,






               IHR LIEBEN FLIESEN!










               Ein Essay von Benjamin Reding
               A  IT-Chefredakteurin Petra Stephan war unterwegs: auf der Cersaie in Bologna. Der  zeugung! Die buntesten Fliesen: Kleben an den Wänden der U-Bahnstationen. Oder bei
                                                                             meinem Nachbarn im Flur. Weil er der Chef der U-Bahnbauabteilung war. Wandgroße
                  Fachmesse für Keramik in Italien! Im aktuellen AIT-Newsletter las ich es. In der No -
               vember-Ausgabe des Heftes würde es um Wellness, Gesundheit und Keramik gehen. Das  Riesen fliesen. Orange, mit bläulich-blasig aufgeschäumten Rändern. Es sah wie Schim -
               ist konsequent. Nein, mehr noch, es ist eine Gleichung: Wellness + Gesundheit = Keramik.  mel aus, wie lang vergessener Goudakäse im Kühlschrank. Stolz zeigte er sie mir, strich
               So eng haben sich der Werkstoff und die Bauaufgaben Wellness und Gesundheit verbun-  zärtlich über die poröse Oberfläche. „Das ist richtige Kunst, was?“ Ich starrte auf die
               den. Und kein Produkt ist dabei erfolgreicher als der Keramik schlichtestes, robustestes  Blasen. Und nickte. Die angstvollsten Fliesen: Waren die Kunst am Bau im örtlichen Hal -
               und nach DIN-Norm 51130 rutschfestestes Kind: die Fliese. Keine Arztpraxis ohne rund-  len bad. Gegenüber dem Dreimeterbrett! Ein buntes Kacheldurcheinander! Es sollte, mit
               herum geflieste Wasch-, Spül-, Spuckbecken, kein Hotel-Spa ohne Fliesenboden, kein  viel Fantasie, wohl eine Sonne, eine Insel und das Meer darstellen. Es könnte aber auch
               Whirlpool ohne Mosaikfliesen, kein Swimmingpool ohne blaue, keine öffentliche Toilette  eine zerlaufene Toma tenpizza gewesen sein. Auf dem Brett stand ich, schaute auf die
               ohne gelbe und kein Krankenhaus ohne weiße Fliesen. Dabei war es nicht immer so. Die  Fliesenpizza und musste hinunter. Irgendeine Schwimmprüfung für Zehnjährige. Sicher
               Römer lieb ten die Wellness und den Marmor und verbanden beides in ihren Thermen,  sehr wichtig. Ich zitterte und zögerte und fror und die Mitschüler kicherten und guckten
               das Mittel alter wusch sich im steinernen Dorfbrunnen die Hände und das Barock badete  und ich sprang. Und landete auf dem Bauch und brach mir fast die Rippen dabei.
               in hölzernen Zubern. Fliesen gab es damals höchstens in der Kirche. Als Fußboden! Dann  Immerhin, dem Anblick des Kunstwerks war ich entronnen. Die schönsten Fliesen: Be -
               kamen das Biedermeier, das Bürgertum und die                                            finden sich  vielleicht auf dem Dach der Casa
               Bazillen. Jeder Blick durch das frisch erfundene                                        Batlló in Barcelona oder in den alten Metro-Ein -
               Mikroskop offenbarte es: Wir sind nicht allein. Das                                     gängen von Hector Guimard in Paris oder unter
               schöne, reine, klare Wasser ist nicht schön, rein                                       der Kuppel der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem.
               und klar. In ihm lauert ein Feind. Unendlich klein                                      Für  mich  aber  glitzern  sie  in  einem  Freibad  in
               und abgrundtief böse! Der Krankheitskeim! Tötet                                         Dortmund-Hörde. Eingerahmt  von einem Stahl -
               ihn! Von nun an und bis heu te muss alles, was mit                                      werk auf der linken und einer Bahnlinie auf der
               Körper, Gesundheit und Badelust  zu tun hat,                                            rech ten Seite, überquert von einem haushohen
               abwaschbar sein. Die ge meine Fliese, dieses                                            Gas rohr,  liegt  das  blau  gekachelte  Becken.
               schlichte Stück aus  Tonerde, Quarz und Oxid,                                           Niemand bewacht das Bad in der Nacht. Und wer
               kehrte  zurück. Und die Rückkehr  geriet zum                                            gut klettern kann, kommt auch hinein. Mit Kum -
               Triumph zug. Die Fliese gibt es eigent lich nur im                                      pels war ich da, etwas angetrunken, sie halfen
               Plural. Eine ein zelne Fliese, die kauft man nicht,                                     mir über den Zaun. Und ich bestieg das Dreime -
               und wenn, dann weil sie Kunst ist. Oder es von                                          ter brett. Die ses Mal freiwillig! Und sprang. Es ging
               sich behauptet. Mit wahlweise bäuerlichen oder                                          ganz leicht, es tat nicht weh. Ich tauchte auf und
               holländischen oder flo ralen Motiven. Dann hängt                                        lachte. Seid umarmt, ihr lieben Fliesen! Die ge -
               sie in der Küche an der Wand und verstaubt. Die                                         heimsten Fliesen: Sind grün. Jeder Schüler einer
               anderen Fliesen aber, die im Plural, sind fleißig                                       1970er-Jahre-Betonschule kennt das: Im In neren
               und begleiten uns das ganze Leben. Stumme,                                              ging es farbig zu. Rote Türen, gelbe Fens terrah -
               geduldige Diener, die jede noch so menschliche  Foto: Benjamin Reding                   men, blaue Noppen-Böden,  violette Heiz körper.
               Lebensäußerung ab waschbar machen. So unauf-                                            Und grüne Fliesen!  Wie in einem Toilet ten trakt
               fällig existieren sie mit, neben und als Fußboden                                       meiner Betonschule.  So ambitioniert  war die
               unter uns, dass wir sie übersehen und vergessen. Wer würde sich an sein erstes Date erin-  Archi tektur geraten, dass man den Trakt nicht fin den konnte. Ich entdeckte ihn durch
               nern und murmeln, er/sie hatte so wunderschöne Fliesen? Wer würde sagen, der Urlaub  Zufall. Hinter einer Betonwand im Pausenhof! Alles war da: Licht, Wasser, Heizung, selbst
               war fantastisch, besonders wegen der Hotel-Fliesen! Und wer, außer Innenarchitekten viel -  Klopapier. Nur benutzt wurde es nie. Der Raum wurde mein geheimer Rückzugsort, ich
               leicht, würde nach einem Restaurantbesuch ausrufen: Das Essen war gut, aber die Fliesen  nannte ihn die „Grüne Hölle“. Den Trakt soll es noch geben, gefunden hat ihn bis heute
               im WC, dafür gehe ich nochmal hin! Erinnern Sie sich an Fliesen? Erinnere ich mich? Ich  niemand. Die letzten Fliesen: Sieht niemand. Ich auch nicht. Vielleicht ist es besser so.
               grüble, überlege. Doch! Sie tauchen auf, quellen aus entlegenen Hirnregionen, aus tiefsten  Ich besuchte ein stillgelegtes Krematorium. Die Stadt hatte es zur Miete angeboten. Vorne
               Schichten des Unterbewusstseins, aus Über-Ich und Es: Fliesen, Fliesen, Fliesen ...  mächtige Säulen, sandsteinerne Urnennischen, viel Marmor und Mosaik und hinten:
               Die ersten Fliesen: Sieht niemand. Auch ich nicht. Dabei habe ich auf ihnen gelegen und  Fliesen. Man hätte es für eine Kunstinstallation halten können. Fliesen auf dem Boden,
               ge froren und geschrien. Ziemlich laut, wie der Chefarzt später behauptete. Blind darm ent -  Fliesen an den Wänden, Fliesen an der Decke, Fliesen auf den Tischen. Hier wird man
               fernung und Kindesentbindung, das war in den Krankenhäusern um 1970 fast dasselbe  also liegen. Ich mietete nicht. Eine Bar zog ein. Sie mussten wenig ändern. Fliesen sind
               und es war Männersache. Deshalb sahen die OPs der Geburtsstationen auch so aus: wie  in. Hipster-Coolness und neue Einfachheit! Jetzt wird dort gelacht, geraucht, getrunken
               Autoreparaturwerkstätten. Neonlicht, gekachelte Wände. Plastikschläuche, Me talltische,  und gesoffen, gescherzt und geküsst. Rotwein kleckert über die Fliesen, Kaffee, Bier und
               verchromte Technik. Unmöglich, dass Geburten auch unter Wasser, auf einem Lammfell  Lattte macchiato, Parfüm und Aftershave, Zucker und Lippenstift. Schön, was einer alten
               oder dem heimischen Sofa möglich sind. Sagte der Chefarzt. Im Brustton der Über -  Fliese noch passieren kann.



               056  •  AIT 11.2017
   51   52   53   54   55   56   57   58   59   60   61