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REDINGS ESSAY
„SEHT!“
Ein Essay von Dominik Reding
D er Titel war irreführend. Das Buch hieß „Serafin und seine Wundermaschine“, und garten, einem Pool im Keller und einem Wohnzimmer mit Travertinboden, und sie sag-
ten, das wäre ja ein Traumhaus, aber ich hatte die winzigen Kinderzimmer gesehen und
es gab zwar im Buch eine Maschine, ein unglaubliches Ding, das, soweit man es in
einem Zeichenbuch beurteilen kann, mit hundert Instrumenten gleichzeitig dröhnend fand das gar nicht. Das Haus war dann zum Glück viel zu teuer. Danach gaben sie das
laut Musik machen konnte. Aber das war nicht das Zentrum. Das Buch hätte „Serafins Suchen auf und entschieden sich – damals konnten selbst Lehrer, kleine Angestellte oder
Wunderhaus“ heißen müssen, denn es ging um ein Haus, das einem Wunder glich, sogar meine gering verdienenden Eltern so etwas wagen –, ein Haus zu bauen. Als das
einem Traum, einer Kinderfantasie. Serafin, gerade als Schaffner der Pariser Metro ent- Haus fertig war und die Eltern sprachen „Seht!“, da war ich enttäuscht. Ja, es gab für uns
lassen, weil er einem Schmetterling aus dem Tunneldunkel helfen wollte, erbt es. Erst gut belichtete Kinderzimmer und im Keller eine Dusche („Wenn ihr mal dreckig rein-
ist es eine Enttäuschung, Haus und Grundstück sind eine Ruine, aber, zusammen mit kommt“) und in der Küche eine Dunstabzugshaube und am Eingang eine Gegensprech-
seinem Kumpel Plum, der in einem geringelten Pullover wohnt, verwandeln sie es in anlage, aber eine Glaskugel zum Pusten von Seifenblasen, ein blumenumkränztes Kar-
etwas so Unbeschreibliches, dass selbst der Zeichner unter ein Bild davon schrieb: tenabreißer-Häuschen und ein Himmelbett mit goldenen Putten suchte ich vergebens.
„Seht!“ Und das tat ich. An der Fassade gab eine Glaskugel, in der sich Plum in seinem Und auch in meinem Lieblingsbuch, das ich im neuen Haus zu Ende las, ging es auf den
Ringelpullover fläzte und Seifenblasen in die Luft pusten konnte, und eine gewagte Aus- letzten Seiten ernüchternd, ja verstörend, zu: Auf Serafins Grundstück wird eine Siedlung
kragung aus dünnen Stahlprofilen, ganz dem Metro-Jugendstil eines Hector Guimard ver- gebaut, Mietshäuser mit vernünftigen Grundrissen und guter Wärmeisolierung und Bal-
pflichtet, auf dessen vorderster Spitze, wie eine grazile Tänzerin auf gefährdetem Seil, kons vor den Wohnzimmern. Bagger kommen, schieben die Bäume zusammen, planie-
der Fahrkartenschalter schwebte und, von Blumen umkränzt, Serafin darin den Tag ver- ren den Garten, dann folgen Arbeiter und Baukräne, türmen Betonplatten zu Hochhäu-
träumte. Und im Inneren, wild und verwinkelt, gab es eine Bibliothek mit Galerien, Wen- sern aufeinander und dann, Serafins Haus steht längst einsam und lästig im Weg, kom-
deltreppen und einem mannshohen Kamin, in dem das Feuer glühte. Ein Raum, so ma- men die Gerichtsvollzieher mit Räumungstiteln und zuletzt die Feuerwehr, um das Er-
gisch, so stark, dass nachts, wie es eine Zeichnung im Buch behauptete, die Gestalten wachsene, Vernünftige, Notwendige mit Gewalt durchzusetzen. Da entschließen sich Se-
der Weltliteratur aus den schweren Folianten rafin und sein Kumpel Plum, etwas zu tun: Sie
hervorkröchen, von Don Quichotte bis zu den errichten auf dem höchsten Punkt ihres Hauses,
drei Musketieren, von Pinocchio bis zu Max und dem Kartenhäuschen, einen hölzernen Turm,
Moritz, und sich den beiden Hausbewohnern bauen und klettern gleichzeitig, so schnell und so
voller romanhafter Grandezza präsentierten. hoch sie kommen. Schon stürmt die Feuerwehr
Das Buch „Serafin und seine Wundermaschine“ Wunderhaus und Turm und gerade, als ein
betrachtete ich das erste Mal als Kind und zu- Feuerwehr mann siegesgewiss seine Hand nach
letzt vor zehn Jahren, aber das Haus und seinen den beiden „Losern“ ausstreckt, da verlassen sie
Garten kann ich mit jedem Detail, von den den wackeligen Turm und bauen sich aus vier
knorrigen Parkbäumen bis zu Serafins putten- alten Dachziegeln eine Treppe, setzen immer je
verziertem Himmelbett beschreiben, als hätte einen Ziegel, wie Stufen, an den anderen in die
ich alles erst gestern zuletzt gesehen. Luft hinein. „Zuletzt waren sie nur noch ein win-
Forscht man im Internet nach dem Begriff ziger, kaum wahrnehmbarer Punkt. Sie flogen
Traum haus, wird man reichlich fündig: Mal sind weit, weit, sehr weit …“ So endet das Buch.
es kubische Villen mit viel Glas und weiß ge- Seit ein paar Jahren, ich weiß nicht warum, sen-
tünchten Wänden im selbstbetitelten Bauhaus- det mir eine Haus- und Grundstücks-Auktions-
stil, mal voluminöse Holz-Fertighäuser im ame- firma ihre Kataloge. Und manchmal, ich kann
rikanischen Kolonialzeit-Look, mal angestreng- mir kein Haus leisten, schaue ich doch hinein.
ter Gestaltungswille mit Bullaugen-Fenstern Da sind dann viele gepflegte, solide Wohnhäu-
und zwanghaft schiefgestellten Dächern, Wän- ser dabei, und ich überlege, ob und wie man
den und Türen. Sie sind vieles, nur das, was mir Abbildung: © Philippe Fix darin leben und arbeiten könnte. Aber, meist
in Serafins Traumhaus begegnet war, das nicht. auf den letzten Seiten, präsentiert die Firma
Das Buch hielt ich, gerade erst als Geburtstags- auch schwerer Verkäufliches: Stillgelegte Was-
geschenk erhalten, in meinen jungen Händen, da entschlossen sich meine Eltern, mit sertürme, verfallene Gutshäuser, aufgegebene Bahnhöfe und einmal sogar ein ganzes
ihren drei Kindern aus dem zu eng gewordenen, gemieteten Reihenhaus aus und in ein Freibad. Und beim Durchblättern ertappe ich mich bei der Vorstellung, öfter in letzter
größeres, eigenes Haus einzuziehen. Eine Suche begann, manchmal durften wir Kinder Zeit, alles Ersparte zu nehmen und mir kein Wohnhaus mit Bad und Aussicht zu kau-
mit. Und natürlich, ich hoffte auf ein Serafin-Traumhaus, mit verwinkelten Kammern, ge- fen, sondern etwas so Sinnloses, Kindisches, Verbautes, Verschrobenes, letztlich Un-
heimnisvollen Durchblicken, alten Bäumen und puttenbestückten Himmelbetten. Ein- bewohnbares wie Serafins Traumhaus, um am Tag des Einzugs rufen zu können:
mal fanden sie es, tatsächlich ein Haus im Bauhausstil, aber es war kein neumoderner, „Seht!“ Aber, mal ganz ehrlich, das wäre doch ganz und gar bekloppt, oder?
kantiger Bungalow, sondern stammte wirklich aus dem Jahr 1928. Und kam mit seinen Nachbemerkung: Philippe Fix, jetzt 83 Jahre alt, hat „Serafin und seine Wunderma-
abgerundeten Hausecken, einem überwucherten Gewächshaus, einem Turmzimmer schine“ 1967 gezeichnet und wurde damit weltweit berühmt. Er hat der AIT, exklusiv
hoch über dem Treppenhaus gar nicht sachlich daher. Aber, so sagte mein Vater, es wäre für diese Kolumne, gestattet, zwei seiner Zeichnung daraus zu verwenden. Dafür will
zu klein. Und dann fanden sie noch ein anderes, aus den 1950er-Jahren, mit Räumen auf ich ihm von Herzen danken. Aber ich möchte ihm auch und fast mehr noch für sein
versetzten Ebenen, Böden aus Mosaiksteinchen, einem Blumenfenster mit Gummibäu- Buch danken, ohne das meine Liebe (und ich denke, die Liebe vieler heute aktiver Ar-
men und einem Treppenhaus mit runden, bunten Glasbausteinen. Und ich dachte, ah, chitekten) zur Architektur niemals entflammt worden wäre. Also: Merci pour votre livre,
das ist das Traumhaus! Aber Vater sagte, es stünde zu nah an der Autobahn. Und zuletzt, Monsieur Fix! Und allen, die Dinge gestalten, allen, die Architektur machen, kann man
da besichtigten wir eine richtige Villa, fast neu, mit breiten Glasfronten zum Landschafts- immer nur wieder wünschen und wie Serafin laut zurufen: Seht!
048 • AIT 7/8.2020