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REDINGS ESSAY
CAFÉ ORCHIDÉE
Ein Essay von Dominik Reding
D ie Schülerin (an Tisch 4, nippt am Latte Macchiato): „Mathe hab ich verkackt, total. und rührten in ihren Tassen, am Abend saßen sie immer noch dort und konnten es ein-
Die Klausur k ann ich abhaken. Maximal zwei sinnlose Punkte. Den NC kann ich ver-
fach nicht fassen‘. Er hat mir das beigebracht. Wie so vieles. Ich werde es ihm sagen.
gessen. Nix Medizinstudium, nix Jura, nicht mal Architektur ... Ich kann mich vor ‘nen Trotzdem. Einen Kaffee noch und dann, dann sag’ ich es ihm. Die Möbel kann er behal-
Zug schmeißen. Bitte, bitte, kommt, Isabella oder Laura oder ... Lukas, mich trösten. Für ten, das Auto auch. Nur den Hund, den will ich.“ Die elegante Frau (an Tisch 9, schaut
die Abi-Feier brauch’ ich ein Puffer-Jacket von ‚Dsquared2‘. Einmal werde ich berühmt auf ihr Handy): „Schon zehn nach vier ... Warum überhaupt dieses Café? Eine Sushi-Bar
sein, wie, wie ... Selena Gomez! Auch ohne Mathematik.“ Die alte Dame (an Tisch 7, wäre besser gewesen oder eine Kunstgalerie. Nee, Kunst, das wirkt so neunmalklug.
schaut zu Tisch 4 herüber): „Heiter, glücklich, unbeschwert. Schön, wie die junge Frau Warum hab ich mir den neuen Haarschnitt verpassen lassen, Seiten lang, vorne Pony,
aussieht, nein, wie sie ausstrahlt ... Und was die trägt: Bolero-Jacke, Hotpants und die kurz? Und Färben. Rot, fast ein Orange ... Wirke ich damit jünger? Oder grad älter, weil
langen Wimpern ... Hätte ich mich nie getraut, oder ... doch. Kajal hatte wir auch, dicken ich auf ‚jung‘ mache?“ Die alte Dame (an Tisch 7): „Ganz am Anfang gab es hier einen
roten Lippenstift, Haare blond gefärbt, wurde aber mehr so ein schmutziges Orange. Ihre Papagei, der sprechen konnte. ‚Hast Du schon bezahlt?‘ Immer diesen Satz. ‚Hast du
sind pechschwarz, sicher auch gefärbt, glatt, glänzend, wie Metall: Perfekt, Madame! schon bezahlt?‘ Deshalb strömten die Leute, wir auch. Das Café war voll ... Frau Giese
Alles hat sich geändert ... nur dieses Café nicht. Oh, doch, natürlich, die Preise. Schwarz- kommt nicht mehr, jetzt im betreuten Wohnen, Frau Stadtfeld Pflegestation und Frau
wälder Kirsch zwei Mark ... oder waren es 1,50? Na, der schmeckt immer noch, aber die Düser Westfriedhof. Am Anfang waren wir zu sechst, dann noch zu dritt, jetzt nur noch
Stücke sind ziemlich schmal geworden, und früher durfte man hier rauchen. Selbst Mut- ich, allein, irgendwann dann auch ich nicht mehr. Nur noch ein Bild im Kopf der anderen,
ter kannte das ‚Café Orchidée‘, sie fand es zu modern ...“ Die elegante Frau (an Tisch 9): schwache Erinnerung, wie an die alte Frau, die ich hier sah, vor 50 Jahren, uralt kam sie
„Wieso bloß Schwarzwälder Kirsch? Warum hab ich mir nicht wenigstens Crème Brûlée mir vor, in ihrem schwarzen Witwenkleid, sie trank Eierlikör, viel davon. dann tanzte sie
oder ein Eis-Parfait oder Crêpe Suzette oder Tarte au Citron bestellt? Wenn der mich so um den Tisch, bis das Personal kam. Werde ich auch mal so?“ Die elegante Frau (an
sieht, denkt der bestimmt, was für eine biedere Tisch 9, steht auf): „Halb Fünf. Der kommt nicht
Tante ist das denn? Da nützt mir mein nagel- mehr. Typisch Tinder-Date. Alles Lüge. Immer-
neues Balenciaga-Kostümchen nix mehr, der hin, ich hab ´ne neue Frisur. Und die gefällt mir!
erste Eindruck, die ersten drei Sekunden ent- Egal, was die Anderen sagen ...“ Der Kolumnist
scheiden. Wann kommt er? 16 Uhr, noch 15 Mi- (an Tisch 8): „Hier stehen noch Nummernschild-
nuten. Auf den Fotos sah er schön aus ...“ Der chen auf den Tischen: ‚Tisch 8‘, geprägt auf Mes-
junge Angestellte (an Tisch 3): „Hier finden die sing. Ein Glück, dass der Zug einen Defekt hatte,
mich nie. Die gehen in die schicken Coffee-Bars, halten musste. Sonst wäre ich jetzt nicht hier, in
Coffee-to-Gos, ‚Happy-Barista‘-Läden, die lieben einer Mittelstadt, einer Nebenstraße, einem
Kollegen. Mit Laptop auf den Knien. Man macht Café namens ‚Orchidée‘. Aus den Großstädten
ja nie Arbeitspause, schon gar nicht in der IT- ist es verschwunden oder trendy, poppig, mu-
Branche, ist wohl wichtig, dass das alle sehen. seal aufgehübscht nur noch als Kuriosum übrig:
Hier nicht. Hier muss ich nicht tun, als müsste das ‚Oma-Café‘. Ort des beruhigenden Glücks
ich was tun, muss nicht mitlachen bei flachen Foto: Benjamin Reding nach glücklosen Schulstunden, erschöpfenden
Witzen, nicht dem Chef gefallen, nicht übermo- Einkäufen mit den Eltern, ermüdenden Ver-
tiviert und dauervergnügt sein, nicht den Kaffee wandtenbesuchen, erfolglosen Geschäftsbe-
in grundsätzlicher Eile herunterkippen. Richtig prachtvoll uncool der Laden! Hier haben sprechungen, missglückten Flirts. Ein Ort, der nichts vom Besucher verlangt, keine Lei-
sie noch keine kreisrunden Riesenlampen unter die Decke gepappt und keine dünnfüßi- stungen, keine Rekorde, kein Up-to-date-Sein, kein bestimmtes Verhalten, außer Lust auf
gen Metallbarhocker vor die Kuchentheke gestellt, keine Donuts, Bagels, Brownies, Nitro Kaffee und Kuchen und etwas Höflichkeit, vielleicht. Ein weicher Ort, fast anrüchig weich.
Ice Teas und Cupcakes mit Sojamilch in der Auslage. Nein, hier ist das Sein Selbstzweck. In Bars geht man nach Erfolgen, ins gehobene Restaurant, um zu imponieren, in die
Ungenierter, unverhohlener, ehrenwerter Müßiggang. Oh, da hinten sitzt ja doch einer Kneipe, um zu kickern, Skat zu dreschen und zu saufen. Laut, hart, männlich. ‚Kaffee-
mit ´nem Laptop. Der muss sich verirrt haben ...“ Der energische Mittvierziger, mit seinem haus-Existenzen‘, das ist ein Schimpfwort. Hier, zwischen behaglich knarrenden Holz-
Laptop auf den Knien (an Tisch 5, schaut sich um): „Alles kommt raus! Auch der Blumen- stühlen, Kristallleuchtern und dem Duft frischer Kaffeebohnen fallen einem die alten
laden nebenan. Dann ist Platz ist genug für eine solvente Kette, High-End Rent. Und oben Spiele wieder ein, die Kinderspiele. Womit man sich die Zeit vertrieb bei den ersten Be-
Bürofläche plus Eigentumswohnungen. Nur das Gerangel nervt. Dauern viel zu lange, die suchen in einem ‚Oma-Café‘: Wie das Gedankenlesespiel. Gleich kommt der Ersatzzug,
Verhandlungen. Die störrischen alten Besitzer, aber die Kinder, die wollen! Beste Innen- ich werde zahlen. Und die Realität bemerken: Die elegante Frau an Tisch 9 wird von kei-
stadtlage, bahnhofsnah, gute Grundstückmaße. Hoffentlich funkt uns der Denkmalschutz nem Tinder-Date, sondern ihrem Mann und ihren zwei Kindern abgeholt, die Schülerin
nicht dazwischen. Aber selbst wenn, es gibt genug Risse im Keller, unsere Gutachter wer- spricht Arabisch in ihr Smartphone, der Angestellte nimmt seine Arbeitsjacke vom Klei-
den´s schon richten.“ Das schweigende Paar (an Tisch 12), Er: „Als sie einander acht Jahre derhaken: Die eines Müllmannes. Und das schweigsame Paar an Tisch 12 ist kein Paar,
kannten, man darf sagen sie kannten sich gut, kam ihre Liebe plötzlich abhanden, wie sie werden mit Kuss von ihren Lebenspartnern begrüßt, sie von ihrer Freundin, er von
anderen Leuten ein Stock oder Hut‘ ... Das hab ich nicht vergessen. Deutschkurs bei Stu- seinem Freund. Oh, doch ziemlich daneben gelegen beim Gedankenraten. Nur bei den
dienrat Haustein, der lieber Dreien statt Fünfen vergab. Von Tucholsky, nee, Kästner Gästen von Tisch 5 und 7 könnte es anders ein: Der energetische Mittvierziger knipst noch
war´s. Ich muss es ihr sagen ... Vorbei ist vorbei. Jetzt, gleich, nach dem Kaffee ... oder schnell und heimlich Handyfotos vom Lokal, und die ältere Dame geht allein, mit einem
morgen?“ Das schweigende Paar (an Tisch 12), Sie: „Sie gingen ins kleinste Café am Ort kurzen, fast wehmütigen Abschiedswinken. Ich hoffe, ich habe mich geirrt.“
056 • AIT 6.2023