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Entwurf • Design Grüntuch Ernst Architekten, Berlin
                                                                           Bauherr • Client Wilmina GmbH
                                                                                                                                       © Wilmina | Foto: Robert Rieger
                                                                           Standort • Location Kantstraße 79, Berlin-Charlottenburg
                                                                           Nutzfläche • Floor space 3.400 m 2
                                                                           Fotos • Photos Robert Rieger (8), Patricia Parinejad (2)
                                                                           Mehr Infos auf Seite • More infos on page 150























             © Wilmina | Fotos: Robert Rieger






             Das Atrium ist das Herzstück des Gebäudes. • The atrium is the heart of the building.  Über eine Galerie gelangt man in die Wilmina Kamin-Lounge. • Through a gallery in the Wilmina fireplace lounge



             von • by Grüntuch Ernst Architekten, Berlin
             D   as ehemalige Gerichtsgebäude ist unter dem Namen Amtssalon als Kunst- und Kul-  sich dieses über fünf Ebenen, es gibt vier Bestandsgeschosse und darüber eine neue Pent-
                 turraum zu neuem Leben erwacht. In der Kantstraße, einer der belebtesten Straßen
                                                                           house- Etage. Entlang schmaler Galerien mit schmiedeeisernen Brüstungen reiht sich Tür
             West-Berlins, hinter den Türen der Nummer 79, blieb ein Ort jahrzehntelang unzugänglich  an Tür. Langgestreckte Oberlichter fluten zenitales Tageslicht entlang der hell geschlämm-
             und vergessen – ein ehemaliges Frauengefängnis, verborgen im Inneren des Häuser-  ten Ziegelsteinwand. Eine Lichtinstallation mit gläsernen, von der Decke abgehängten
             blocks. Die Berliner Architekten Grüntuch Ernst haben sich des Ortes angenommen. In  Pendelleuchten betont spielerisch die Höhe des Luftraums. Dabei bleibt das Prinzip der
             einem sensiblen Dialog mit der Geschichte ist ihnen die radikale Transformation vom Ge-  aneinandergereihten Zellenmodule auch in den Hotelzimmern weiterhin erfahrbar. Aus
             fängnis zu einem Sehnsuchtsort mit Hotel und Restaurant gelungen. Im Prozess galt es,  ehemaligen Gefängniszellen entstanden 44 großzügige Gästezimmer: Das Spektrum
             die Raumkonfiguration und ihre Bedeutung umzukehren, damit aus einem antisozialen  reicht von gemütlichen Schlafkojen mit elf Quadratmetern Fläche bis hin zum großzügi-
             Raum ein einladender Ort entstehen kann – ein Kleinod für den ganz bewusst gewählten  gen 75 Quadratmetern großen Garden Loft, das sich im ehemaligen Versammlungsraum
             Rückzug. Durch sensible Interventionen mit gezielten Öffnungen, Aufbauten, Überlage-  befindet. Alle Gästezimmer vereinen historische Authentizität mit modernem Luxus und
             rungen, Verschiebungen und Durchdringungen wurden die bestehenden Strukturen er-  Komfort, ohne dem Gast eine störende Opulenz aufzudrängen. Trotz ihrer Gemeinsam-
             weitert, verbunden und neu programmiert. Das Strafgericht und das dazugehörige Ge-  keiten ist jedes Zimmer ein Unikat. Kein Raum gleicht dem anderen, aber in allen erzeu-
             fängnis wurden 1896 als freistehende Gebäude von den Architekten Adolf Brückner und  gen helle Farben, weiche Texturen und warme, hochwertige Materialien beruhigende
             Eduard Fürstenau errichtet. Das Vorderhaus wurde als Schöffengericht genutzt und be-  Rückzugsräume. Die kleinen Fenster der ehemaligen Zellen ließen vor dem Umbau zwar
             herbergte zuletzt das Grundbuchamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Auch das Gebäude im  Tageslicht in die Räume, lagen aber zu hoch in der Wand, um einen Blick nach außen zu
             Hinterhof war über Jahrzehnte Teil der Geschichte der deutschen Justiz, es diente im zwei-  ermöglichen. Deshalb haben die Architekten die Maueröffnungen der Fenster nach unten
             ten Weltkrieg als Gefängnis für Widerstandskämpferinnen. Nach der Schließung des Ge-  erweitert, sodass ein Ausblick in den Hof möglich ist, während die Gitter im oberen Fen-
             fängnisses im Jahr 1985 wurde das Gebäude als Archiv für das Grundbuchamt genutzt.  sterteil erhalten bleiben. Dieser bedachte Umgang mit den Fenstern ist nur einer von vie-
                                                                           len Berührungspunkten, an denen das neue Hotel in den Dialog mit der Geschichte sei-
             Eine überraschende Naturinsel inmitten des Stadtblocks        nes Hauses tritt. Am hinteren Treppenhaus blieb eine Zelle im Originalzustand erhalten.
                                                                           Gesammelte Dokumente geben den Besucherinnen und Besuchern Einblicke in die Ge-
             Von der Straße kommend durchquert der Hotelgast zunächst das Vorderhaus, den Amts-  schichte des Hauses. Eine ganz andere Atmosphäre empfängt die Gäste im neuen Pent-
             salon. Durch eine Sequenz von Höfen gelangt der Gast tiefer in das Ensemble, wo Durch-  house-Geschoss. Hier gibt es klare Linien und die beste Aussicht. Bodentiefe Fenster er-
             gänge und Räume zunehmend weniger öffentlich sind. Im zentralen großen Gartenhof  lauben einen Blick in die Höfe und Gärten. Die neuen Räume sind minimalistisch, klar
             angekommen, könnte man meinen, hier sei alles schon immer so gewesen. Neben hoch-  und ruhig gestaltet; dennoch haben sie eine poetische Note. Vor den Panoramafenstern
             gewachsenen Bäumen haben sich Sträucher, Hecken und Kletterpflanzen über mehrere  bietet ein Vorhang aus feinen Metallketten ein hohes Maß an Privatheit und gleichzeitig
             Jahrzehnte ungerichtet und ungehindert ausgebreitet. Große Teile des asphaltieren Hofes  Schutz vor Sonnenerwärmung. Die filigranen Ketten sind federnd gelagert und bewegen
              wurden renaturiert und mit üppigen Staudenbeeten bepflanzt. Eine überraschende Na-  sich leicht im Wind. Wenn das Metall in der Sonne glitzert, umhüllt der Vorhang das hi-
              turinsel inmitten des Stadtblocks. Für den Hauptzugang in das Hotel wurde eine Fenster-  storische Gebäude mit einem elegant schimmernden Schleier. Die Dachterrasse bietet
              öffnung zur Tür erweitert. Die Hotelgäste gelangen dort aus dem Gartenhof in die Lobby  einen Ausblick auf die Dachgärten und Innenhöfe des Ensembles sowie in die Weite über
             und werden von einem hellen, hohen Raum empfangen. Zur Linken ist die Lobby über  die umgebende Charlottenburger Dachlandschaft. Mit einem zusätzlichen Angebot an Bi-
             eine Galerie mit der einladenden Kamin-Lounge verbunden. Zur Rechten führt eine  bliothek, Bar, Spa und Gym bietet das inhabergeführte Hotel seinen Gästen ein hohes
             Treppe in das Atrium, das Herzstück des Gebäudes. Im ehemaligen Zellentrakt erstreckt  Maß an Ruhe und Komfort auf entsprechend gestalterischem Niveau.

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