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REDINGS ESSAY




                                KUNST IM NICHTS






                                                            Ein Essay von Benjamin Reding






         N   ur nicht zu spät kommen! Der Bürgermeister würde dort sein, der Kraftwerksbetreiber   Warum hatten sie ein Portal, so massig und künstlerisch anspruchsvoll, auf eine einsame
                                                                         Wiese, zwischen Unkraut, Schnecken und Kuhfladen gesetzt? Warum dieser Kunstschrei ins
             und der örtliche Feuerwehr-Oberbrandmeister! Wieder hatten die Dreharbeiten bis zum
          späten Abend gedauert. Wieder gab es am Set zu viel für die kommenden Drehtage zu klären,   Nichts? „Kennst Du wen bei den Berliner Verkehrsbetrieben?“ Eine Studienkollegin fragte es
          zu viel zu besprechen. Jetzt musste ich Gas geben. Fast Vollgas. Die werden einfach gehen,   mich, ein Jahrzehnt später, kurz vor ihrem Abschlussfilm an der Kunsthochschule. „Eine
          wenn ich nicht pünktlich bin. Ich will ja was von denen, die nichts von mir. Hell erleuchtet   Szene spielt 1928 in Berlin im Eingang einer U-Bahnstation. In Berlin haben die doch noch so
          war der Tunnel auf der Straße vor mir, hell und kerzengerade. Ich brauchte die Geschwindig-  eine originale Station, mit großer Eingangshalle, da will ich es drehen! Wittenbergplatz heißt
          keit nicht zu drosseln. Dachte ich. Da rutsche mein Kleinwagen weg. Es war ein klarer Tag  die. Mein Hauptdarsteller verabschiedet sich in der Szene von seiner Film-Freundin und geht
          gewesen, im Hochsauerland, sonnig und eisig. Eis! Die Tunneleinfahrt war vereist! Das Auto   in die Halle. Die Szene dauert höchstens zwei, drei Minuten.“ Ich murmelte „geht klar” und
          schlingerte, rutschte, näher und näher kamen die Tunnelwände. Wenn jetzt noch Gegenver-  mailte und telefonierte herum, erst mit der BVG, dann dem Ordnungsamt, dann mit den
          kehr kommt, dann … Aber es war spät abends, die Straße blieb leer. Endlich bekam ich mein   Geschäftsinhabern, der Stadtreinigung, dem Bezirksbürgermeister, mit immer mehr Ämtern
          Auto wieder in den Griff. „Wieso wollen Sie denn unbedingt hier drehen?“ Ich kam zum   und Behörden. Viele sagten: nein! Ein paar: ja, aber ... Drehzeit, höchstens von drei bis vier
          Treffen zu spät, aber der Bürgermeister der kleinen Sauerland-Gemeinde, der Betreiber des   Uhr früh, mit Straßensperrung, Dixi-Klos und Securitydienst. Kosten: zirka 8000 Euro. „Wie
          örtlichen Wasserkraftwerks und der Oberbrandmeister, sie hatten gewartet. Bei Bier und  wäre es, Dein Darsteller geht einfach durch ein imposantes Tor und kommt in eine Eingangs-
          Schnittchen. „Na, dann erzählen Sie mal! Warum denn Ihr Filmdreh gerade mit unserer Tal-  halle, die so aussieht wie eine U-Bahnhof-Eingangshalle von 1928? Ginge das nicht auch?“
          sperre?“, fragte der Bürgermeister, etwas amüsiert, aber auch interessiert. Ja, warum eigent-  Sie zögerte: „Weiß nicht …” Mein Ehrgeiz war gepackt. Ich dachte an das Tor im Nichts, da
          lich? Meine Gedanken kreisten: Warum…? Weil eine große, emotionale Szene auch ein star-  könnte man stundenlang drehen, ohne jede Straßensperrung. Und die Eingangshalle? Ich
          kes Set, einen starken optischen Background braucht? Damit sich der zentrale Moment der   setze mich in meiner alten Heimatstadt aufs Fahrrad und suchte. Nicht nach den großen,
          Handlung im Film nicht „verspielt“, nicht untergehen, nicht übersehen werden kann? Gewiss.   öffentlichen, städtischen Gebäuden, nicht die von Bürokratie und Genehmigungswahn
          Weil mein Bruder dafür im Storyboard ein dramatisches Talsperren-Setting gezeichnet hatte,   umzingelten Postkartenmotive. Ich suchte in den alten Industriearealen: Die oft unbeachte-
          mit Kraftwerkshaus und wasserüberströmter Staumauer und sogar noch eine Brücke davor   ten, teils schon verfallenen Gebäude der städtischen Strom-, Wasser-, Gasversorgung. Aus
          und ich unbedingt das alles, gerade weil es so unmöglich schien, es in         den Goldenen 1920er-Jahren. Und wurde fündig: Kraftwerks-Turbi-
          der Realität zu finden, unbedingt finden wollte? Sicher auch das. Weil         nenhallen in steilem Architektur-Expressionismus, mit Backstein-
          sich in kleinen Orten, wie eben im Sauerland, die Menschen noch                Zick-Zack außen und Travertinplatten bis zur Decke im Inneren,
          darüber freuen, wenn bei ihnen ein Film gedreht wird, ein „richtiger“          dramatischer, schriller fast als Fritz Högers Chilehaus, Pumpstatio-
          Film, und sie, wenn man Glück hat, Dinge möglich machen, Türen                 nen, so schnittig wie die Kaufhäuser eines Erich Mendelsohn, mit
          öffnen? Ja, auch darum. Oder war es wegen der Fahrradfahrt? Diese              runden Klinkerecken und gebogenen Scheiben. Allesamt ideale,
          seltsame Fahrradfahrt vor vielen Jahren … Die Strecke war immer eine           ausdrucksstarke Drehorte! Und noch eines hatten sie gemeinsam:
          Herausforderung. Eine steile Strecke. Erst ein bisschen bergan, dann           Kein Publikum. „Öffentliche Bauten” ohne Öffentlichkeit. Dabei
          steiler bergan, dann sehr lange sehr steil bergan. Nicht zufällig heißt        freuten sich die wenigen MitarbeiterInnen über meinen Besuch.
          gerne, bis heute nicht. Die Belohnung beim Fahrradfahren bleibt aus,  Zeichnung: Dominik Reding  fotografiert, bewundert. Und darum hatte ich im Sauerland Vollgas
                                                                                         Endlich wurden ihre tagtäglichen Arbeitsstätten wahrgenommen,
          die Straße in meinem Heimatort „Blickstraße“. Der kommt dann: am
          Schluss. Ein Blick hinab auf die Stadt und weiter, viel weiter, fast bis
          zu den Kirchtürmen der Nachbarstadt. Ich radelte die Strecke nicht
                                                                                         gegeben, darum wollte ich an dieser Talsperre im Sauerland mit
                                                                                         dem Kraftwerkshaus und der Brücke vor der Staumauer unbedingt
          der Rückweg ist zu kurvenreich, um ungebremst einfach hinunter zu sausen. Dennoch, ich   drehen. Und ich sagte, die Gedanken mit strahlendem Lächeln zusammenfassend: „Ihre
          fuhr sie oft. Heraus aus der Stadt, den Vororten, der sauberen Garten-Geometrie der Einfami-  Talsperre ist einfach großartig! Die schönste, charaktervollste, die ich gesehen habe! Hier will
          lienhäuser. Hier war die Landschaft ungezügelt, ihre Grenzen noch ohne Geodreieck und   ich meine Szene drehen. Hier und nirgendwo sonst!“ Die Herrenrunde nickte, überrascht und
          Zirkel entstanden. Lehmwege, Kuhweiden, ein paar Bauernkaten, der Geruch nach Stall und   auch ein bisschen beglückt. „Aber wenn Sie drehen wollen, im November, da ist der Wasser-
          Wiesenkräutern. Bei jener Fahrradfahrt – zu erschöpft, auch zu bequem, um die Hügelkuppe   pegel auf niedrigstem Stand. Kein Tropfen läuft da über die Staumauer. Wenn überhaupt,
          mit dem „Blick“ zu erreichen – bog ich ab, auf der Suche nach Schatten und Ruhe, hinein in   dann erst im April. Das war vor zehn Jahren das letzte Mal“, warf der Kraftwerksdirektor in
          unbekanntes Terrain. Da sah ich es: beiläufig beim Vorbeiradeln am Feldwegesrand. Fest  sachlichem Ton ein. Still wurde es jetzt in der Herrenrunde. „Na, wir könnten das Wasser
          umzäunt, halb in den Boden gegraben, fensterlos und wuchtig, fast wie ein begrüntes Fort   über die Staumauer pumpen.” Der Oberbrandmeister ergriff das Wort. „Aber das sieht nicht
          aus dem 1. Weltkrieg. Nichts gab den Inhalt preis, nichts, bis auf den mächtigen Eingang:   so doll aus. Da plätschert nur ein dünner Strahl an der Mauer entlang, das ist kein großes
          sorgsam aus Bruchsteinen gemauert, im Zick-Zack-Stil der frühen 1920er-Jahre, imposant, wie   Kino.“ Ich überlegte. Jetzt schnell sein. Diesen Drehort bekomme ich nie wieder. „Haben Sie
          der Eingang einer Bibliothek oder eines Kunstmuseums oder einer Kirche jener Jahre, mit   schon mal gegen einen Baumstamm gepinkelt?” Ich schaute sehr ernsthaft in die Runde.
          einer geschmiedeten Doppeltür und einem behauenen Schlussstein. Der zeigte das grinsende  „Wenn viel Druck drauf ist, was passiert dann ...? Die Herrenrunde lächelte, wissend-ver-
          Antlitz eines Wassergeistes: Krause optische Mischung aus antikem Neptun und germa-  ständnisvoll. „Wenn wir die Schläuche weit über die Mauer hängen und das abgepumpte
          nisch-grobem Wasser-Nöck. Ich lehnte mein Fahrrad gegen den Zaun und staunte. So viel  Wasser mit viel Druck runterlassen … Ja, das könnte klappen”, erklärte der Oberbrandmeis-
          Kunst im Nichts. Eingang zu einem begrünten Erdhügel, betrachtet und genutzt nur von ein   ter. „Aber das wird für Sie zu teuer, das kostet ein Vermögen!” Der Bürgermeister klang ent-
          paar Raupen und Schnecken, die unermüdlich an den sonnenwarmen Quadern des Portals   täuscht bei seinen Worten. „Wir könnten es als Katastrophenschutzübung deklarieren, das
          emporkrochen. Ein angerostetes Schild am Zaun gab über die humane Nutzung des Bau-  zahlt dann…“ Der Oberbrandmeister sprach den Satz nicht zu Ende, grinste nur in die Runde.
          werks knappe Auskunft: „Städtische Wasserwerke. Speicheranlage IV. Betreten verboten!“   Der Bürgermeister verstand, nickte wohlwollend. „Ja, so könnte man das machen …“  Und
          Auf dem Rückweg – endlich bergab, den warmen Abendwind in den Haaren – grübelte ich:   so haben wir es gemacht, optisch-dramatisch, wie gezeichnet: Architektur als Filmsprache.

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