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Florian Kaiser        Guobin Shen        Entwurf • Design Atelier Kaiser Shen, Stuttgart

                                 FK: 1987 in Biberach geboren 2012 Diplom Architektur Uni Stuttgart ab 2012   Bauherr • Client Gemeinde Schemmerhofen
                                 Mitarbeit Herzog & deMeuron 2017 Gründung Atelier Kaiser Shen, Lehrtätigkeit     Standort • Location Schlägweidestraße 2, 88433 Schemmerhofen  K. Juraschitz, J. Schreiner, M. Stauch
            Fotos: Ibo Koese     GS:  1984  in Zhejiang/China  geboren  2006-2012  Studium Architektur Uni   Nutzfläche • Floor space 1338 m 2
                                                                          Fotos • Photos Brigida González, Stuttgart
                                 Stuttgart ab 2012 Mitarbeit Herzog & deMeuron, Lehrtätigkeit 2024 Unfalltod



























             Zweigelenkrahmen rhythmisieren elegant den Hallenraum. • Double-hinged frames rhythmize the hall space.   Über die Glasfassade erweitert sich die Halle auf die Terrasse. • The hall extends onto the terrace via the glass façade.



             von • by Florian Kaiser, Atelier Kaiser Shen, Stuttgart
            E  s war eine sehr schöne Erfahrung, in der ehemaligen Heimat zu bauen, und ich   selbstverständlich. Um den Abriss auf ein Minimum zu reduzieren, wurden Fundamente
                                                                          und Bodenplatte, Decken und die massiven Wände im nördlichen Teil und der straßensei-
               habe wirklich sehr viel Herzblut in das Projekt gesteckt. Als Kind hatte ich Schul-
             und Vereinssport in der Mehrzweckhalle, als Jugendlicher besuchte ich zahlreiche Ver-  tige Bühnentrakt in die Planung integriert. So konnten insgesamt 60 Prozent der Baumasse
             anstaltungen, und nun durfte ich das Gebäude sanieren und erweitern. Es freut mich   erhalten werden. Da die Hallenlänge des Vorgängerbaus exakt den DIN-Anforderungen
             sehr, dass die Ingerkinger die Mehrzweckhalle so gut annehmen. Das Konzept des Wei-  einer Einfeldhalle entsprach, musste allein die Südfassade rückgebaut und versetzt wer-
             terbauens wird seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte praktiziert. Es ist heute wie-  den. So entstand mit vergleichsweise wenigen Eingriffen eine normgerechte Einfeldhalle.
             der absolut zeitgemäß, denn es erfüllt zum einen den Wunsch nach Kontinuität, und   Der Bestandserhalt konnte nur durch die Entwicklung eines innovativen Tragwerks reali-
             zum anderen ist das Weiterbauen ein pragmatischer Umgang mit Energie und Mate-  siert werden. Ein einhüftiger Zweigelenkrahmen aus Brettschichtholz ist auf dem Achsras-
             rial. Das oberschwäbische Ingerkingen bei Biberach an der Riß ließ im Wettbewerb   ter der bestehenden Stahlbetonstützen ausgerichtet und leitet rund 60 Prozent der Vertikal-
             offen, ob die bestehende Mehrzweckhalle in die Neukonzeption integriert oder einem   und alle Horizontallasten in die neuen Fundamente ein. Durch das innovative Tragwerk
             Ersatzneubau weichen sollte. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Grundschule, dem   konnten die bestehenden Fundamente erhalten und die Lasten trotz erhöhter Spannweiten
             Musikerheim und der Feuerwehr ist die Halle Zentrum des gesellschaftlichen Dorf-   aufgenommen werden. Auch die Ausführung der Zweigelenkrahmen ist materialoptimiert
             lebens. Neben dem Schulsport dient sie den unterschiedlichen ortsansässigen Verei-  entwickelt, sie liegen mit einer Schattenfuge leicht auf den Betonstützen auf, rhythmisieren
             nen als Treffpunkt, Veranstaltungs- und Trainingsort. Sie war 1964 nach den Plänen von  den Hallenraum und wirken elegant. Zusammen mit den vollständig mit Birke-Sperrholz-
             Pfalzer und Schenk als Sport- und Turnhalle der östlich angrenzenden Grundschule   platten bekleideten Hallenwänden wird der Raum den kulturellen Veranstaltungen, die
             errichtet worden. Der ursprüngliche Entwurf überzeugt durch eine große Klarheit und   hier stattfinden, gerecht. Die große Dachauskragung vor der Südfassade erzeugt eine wet-
             die präzise Ablesbarkeit der Konstruktion. Nach ihrer Fertigstellung wurde die Turnhal-  tergeschützte Terrasse, die direkt mit der Halle verbunden werden kann. Das Holztragwerk
             le mehrfach umgebaut und zu einer Mehrzweckhalle mit Bühne erweitert. Mit jedem   prägt den architektonischen Entwurf und erzeugt ein einzigartiges Raumgefühl.
             Umbau verlor das Gebäude allerdings schrittweise die typologische und ästhetische
             Qualität. Beim ausgeschriebenen Wettbewerb konnten wir uns mit einem maximalen  Kontinuität: Dialog zwischen Alt- und Neubau
             Bestandserhalt durchsetzen und so die Mehrzweckhalle vor dem drohenden Abriss
             und Ersatzneubau bewahren. Das Resultat ist ein Gebäude, dessen Geschichte deut-  Bestand und Neubau sind durch ihre Konstruktion und Materialisierung ablesbar. Der
             lich ablesbar ist. Die Mehrzweckhalle, die 60 Jahre lang das Dorfgeschehen begleitet   massive Bestand wurde gedämmt und entsprechend dem Originalputz verputzt. Die Auf-
             hat, lebt in gewisser Weise weiter, ohne dass ihre Gestalt geschichtlich verklärt wird.  stockung und Erweiterung in leichter Holzrahmenbauweise wird mit einer hinterlüfteten
                                                                          Holzfassade ablesbar gemacht. Insbesondere an der West- und Nordfassade wird so die
             Pragmatischer Umgang mit dem Bestand                         Baugeschichte der Halle erzählt. Die bestehende Giebelwand wird Richtung Süden erwei-
                                                                          tert und mit zwei gegenläufigen Pultdächern der Aufstockung und des Hallendachs über-
             Wenngleich der erhaltene Bestand keinen hohen künstlerischen Wert besitzt und von den   baut. Im Norden wird die durchlaufende Linie zwischen Alt und Neu nur durch die neue
             DorfbewohnerInnen nicht als „schön“ eingestuft wird, stellte er für uns einen hervorragen-  Tür des Sportlereingangs und eine leichte Stahltreppe getrennt. Der Versatz von rund 12
             den Dialogpartner dar. Wir suchten einen pragmatischen Umgang, und uns interessierte   Zentimetern, der aus der schlankeren Wandkonstruktion im Holzrahmenbau im Vergleich
             das Potenzial beim Weiterbauen. Dabei hatten wir  das Bild einer chinesischen Porzellan-  zum außen gedämmten Mauerwerk resultiert, schärft die Plastizität des Bauwerks zusätz-
             schüssel vor Augen, die nach dem Zerbrechen repariert wurde und dadurch erst eine   lich. Die Boden-Leisten-Schalung wurde aus unbehandelten, sägerauen Standardprofilen
             unverwechselbare Poesie aufweist. Eine ähnliche Konzeption wurde bei der Sanierung   mit 60/40 Millimeter in Fichtenholz erstellt, die günstig und austauschbar sind. Hinter der
             der Mehrzweckhalle in Ingerkingen zugrunde gelegt. Da sich ein Teil des Gebäudes einfach   durchlaufenden Lattung verbergen sich Fenster, Lüftungsauslässe und die Wartungstüren
             und funktionsfähig in die Neukonzeption integrieren ließ, erachteten wir den Erhalt als  der Lüftungsanlage. Somit wirkt die Aufstockung und Erweiterung wie ein monolithisches

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