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ÖFFENTLICHE BAUTEN  •  PUBLIC BUILDINGS   THEORIE  •  THEORY


                                                               Harald Jäger und der Architektin Christiane Hoch ein Raumprogramm mit einem Grundriss, den man
                                                               von einer Schule ganz und gar nicht erwartet. Denn jedem Raum dieser Schule nahe der Schweizer
                                                               Grenze, im Landkreis Waldshut, wohnt eine Intention inne. Klar erkennbare Raumfunktionen ver-
                                                               einfachen den LernpartnerInnen und LernbegleiterInnen der Sekundarstufe II das Einfinden in den
                                                               Lernalltag. Klassenräume oder ein Lehrpersonenzimmer sucht man im Oberstufenneubau der ASW
                                                               vergeblich. Gegen den Trend, dass Klassenräume so flexibel wie möglich bespielbar sein sollten, war
                                                               es unser Anliegen, Räume mit unverrückbaren Nutzungsszenarien zu definieren. Im gesamten Gebäu-
                                                               de ist es zudem nicht erlaubt, Mobiliar eines Raums in einen anderen zu platzieren. Jedes Möbelstück
                                                               macht für die jeweilige Zone Sinn, und intuitiv werden diese nur selten verschoben. Flexibilität wird
                                                               also nicht durch die Vielfältigkeit im jeweiligen Raum angeboten, sondern durch die freie Wahl der
                                                               vielen unterschiedlichen Zonen. Nora F., Lernpartnerin der Alemannenschule Wutöschingen, stellt
                                                               fest: „Hier gibt es sehr viele Orte, um zu lernen, egal, ob es im Stehen, Liegen oder Sitzen ist, allein
                                                               oder in der Gruppe. Ich kann selbst entscheiden, wo ich lernen will, und bin nicht an einen Stuhl
                                                               und Tisch gebunden. Auch wird mit Gegenständen, Einrichtung und Menschen deutlich respektvol-
                                                               ler umgegangen.“ Und ihre Kollegin, die Lernpartnerin Siri O., ergänzt: „Zum fokussierten Lernen
                                                               nutze ich zum Beispiel gerne den Silence Room, da dort komplette Stille herrscht und jeder konzent-
                                                               riert am Arbeiten ist. Zum Ausruhen ist aber definitiv der Meditationsraum mein Favorit, da ich dort
                                                               schnell wieder meine Energie auftanken kann.“ Auch Lea S., Lernpartnerin an der Alemannenschule
                                                               Wutöschingen, ist fest überzeugt: „Meine Motivation und mein Lernverhalten haben sich ins Positive
                                                               verändert. Die Fächer der ASW sind nicht als getrennte Bereiche anzusehen, sondern als sich über-
                                                               schneidende und gegenseitig befruchtende Inhalte einer offenen Lernstruktur.“
                                                               Co-Learning Space: das Herz der Oberstufe

                                                               Das Zentrum des Gebäudes bildet der zweigeschossige Co-Learning Space mit seiner sichtbaren Holz-
                                                               konstruktion. Dies ist das Herz des vor zwei Jahren eröffneten Gebäudes und macht mit seiner riesigen
                                                               und doch Geborgenheit spendenden Anmutung die Identität der Schule sichtbar: Kinder und Jugend-
                                                               liche sind dafür gemacht, im sozialen Gefüge dazu zu gehören. Das Gefühl der Identifikation mit der
                                                               Schulgemeinschaft und ihrer Kultur ist der Schlüssel dafür, dass Menschen ihren wertvollen Beitrag
                                                               auch leisten möchten. Beim Betreten des Gebäudes ist dies sofort spürbar. In der Mitte des Raumes
           Sitztreppe im großen Co-Learning Space • Seating stairs in the large co-learning space   ist im Holzparkett eine Bronzeplakette eingelassen. In ihr ist neben dem Baujahr die Philosophie der
                                                               Schule eingraviert. Der Leitspruch der ASW „Mit dem Herzen dabei“ erinnert die LernpartnerInnen
           Creator Space: Stehtische und Hocker fürs Brainstorming • High tables and stools   und LernbegleiterInnen an die Grundhaltung, mit der ein Lernprozess überhaupt möglich ist. Die
                                                               positiven Effekte sind nicht von der Hand zu weisen. „Gerne verbringe ich mehr Zeit in der Schule, da
                                                               dies der bessere Ort zum Lernen ist als beispielsweise der Schreibtisch daheim“, bekennt Manuel M.,
                                                               Lernpartner der ASW. Das geometrische Wandbild und die komplexe Lichtinstallation, inspiriert vom
                                                               urtümlichen Fadenspiel von früher auf den Pausenhöfen, verbinden den Boden mit dem fast neun
                                                               Meter hohen Luftraum. Die gestalterischen Elemente, die sich durch das gesamte Gebäude ziehen,
                                                               symbolisieren Sicherheit und gleichzeitig den Mut zum Ausfliegen – frei nach Goethes Zitat: „Zwei
                                                               Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“

                                                               Resümee nach drei Jahren Betrieb: ein Erfolgsmodell

                                                               Verglasungen zwischen den Räumen und Zirkulationszonen schaffen eine Transparenz, die im tägli-
                                                               chen Miteinander den offenen Austausch begünstigt. Kaskadenartig verbindet die Sitztreppe Erd- und
                                                               Obergeschoss im offenen Co-Learning Space. Der Aufgang ist eine willkommene Sitzgelegenheit. Denn
                                                               außer Sitzstufen gibt es Sitzsäcke. Großflächige Fensteröffnungen entlang der Treppe geben den Blick
                                                               nach draußen frei. Maßgefertigtes Mobiliar, das sich in Aufbau, Proportion und Detail im gesamten
           Silence Room für stilles, konzentriertes Arbeiten • Silence Room for quiet, focused work  Gebäude wiederfindet, vermittelt ein Gefühl von Ruhe und Kontinuität. Die Flure werden sowohl als
                                                               Durchgangszonen als auch als erweiterte Lernräume genutzt. Hier trifft man sich spontan oder verab-
                                                               redet sich zum kollaborativen Arbeiten in der Gruppe. Semitransparente Vorhänge, mit denen man
                                                               unkompliziert Raum-in-Raum-Lösungen arrangieren kann, vereinfachen es den Jugendlichen, eine
                                                               ungestörte Rückzugssituation zu schaffen. Alle Inputräume haben Zugang zu den Außenterrassen und
                                                               können so in den Lernalltag miteinbezogen werden. Der architektonische Materialmix aus Sichtbeton,
                                                               farblich in erdigen Tönen gestalteten Putzwänden, Teppich- und  Eicheparkettböden, Elementen aus
                                                               Holz und Holzfenstern schaffen eine warme Hülle. Drei Jahre nach der Eröffnung kann man zweifellos
                                                               sagen, dass das Gebäude für die Oberstufe der Alemannenschule Wutöschingen ein Erfolg ist. Dies
                                                               ist dem gesamten Planungs- und Bauprozess geschuldet, in den von Anfang an sämtliche Stakeholder
                                                               aus Politik, Bildung, Lehrpersonen, Lernende sowie FachplanerInnen involviert waren. Der Modell-
                                                               charakter der Schule zieht Interessenten von weit her an. Der größte Beweis für das Gelingen ist für
                                                               uns jedoch das positive Feedback der LernpartnerInnen. Diese betonen, wie sehr sich ihre Motivation
                                                               zum Positiven gewandelt hat und wie sie in der neuen Schulumgebung nicht nur einen Bildungsort,
                                                               sondern auch eine Heimat finden konnten.

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