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REDINGS ESSAY
                                        WILLKOMMEN




                                      IM PLAYROOM!






                                                            Ein Essay von Benjamin Reding




          D   er Kanzler wirkte angespannt. Die geladene Runde war klein. Erst hielt er, frei formu-  sisch nicht anwesend. Die Wohnung bestand aus zwei Räumen, einem Schlafzimmer mit
              liert, eine seiner wenig mitreißenden Wahlkampfreden, dann beantwortete er die Fra-
                                                                         einem dazu offenen, indirekt LED-beleuchteten Badbereich – komplett offen, ohne Glas,
           gen des handverlesenen Publikums. Auch ich hatte eine Frage formuliert: Drei Überzeugun-  ohne Vorhang, ohne irgendwas – und ein Wohnzimmer mit Pantry. Wohnzimmer? War es
           gen seien die Ideale der Sozialdemokratie: Weltpolitisch: Frieden, innenpolitisch: soziale   das? Die Kitchen-Pantry mit ihren Edelstahl-Barhockern stand frei, ein glatter Block aus
           Gerechtigkeit und ethisch: Nie wieder Faschismus! Wie wolle er, wie könne seine Partei   schwarzem Marmor, mit von der Decke an Ketten darüber herab baumelnden, pop-roten
           nach der Wahl mit einer CDU koalieren, die sich aktuell nach rechts außen, zur AfD hin,  Metallborden. Der Boden in der gesamten Wohnung: schwarzes Gummi. Das einzige Fens-
           öffnet?  Man zeigte auf, wie in der Schule, nur zu schnipsen traute sich hier niemand. Dann   ter: mit silbergrauem Stahlnetzvorhang fest zugezogen. In der Raummitte: das schwarze
           kamen sie alle an die Reihe, freundlich aufgefordert von der Direktmandatskandidatin – der   Ledersofa, dessen Aluminiumuntergestell mit seinen Rädern klar machte, dass es sich
           Herr von der AWO, die Dame von der Senioren-SPD, die Vertreterin der IG-Bau, die Vertreter   geschwind zu einem bequemen Doppelbett aufschieben ließ. Gegenüber dem Sofa: ein
           von ver.di, die Dame vom Verband mittelständischer Unternehmen, der Herr vom Paritäti-  wandgroßer Spiegel, rundherum: Haken aus Edelstahl, dazwischen, hängend oder
           schen Wohlfahrtsverband – und fragten ihre Fragen. Schöne Fragen, auf die der Kanzler  gespannt: Seile, Stricke, Ketten und allerlei erotisches Spielzeug. Dazu dudelten sanfte Tech-
           schöne Antworten geben konnte. Ich kam nicht dran. Einmal lächelte mir die Direktkandi-  no-House-Klänge aus dem MP-3-Player. „Das ist der Playroom! Eigentlich ist die ganze Woh-
           datin kurz zu, mit einem freundlichen, aber seltsam verneinenden Nicken, das wohl signa-  nung einer!“ Maik und Aishe lächelten, verschwörerisch. Das Sein bestimmt das Bewusst-
           lisieren sollte: Ja, du zeigst hier fleißig auf und bist auch hochwohllöblich eingeladen, aber   sein! Karl Marx’ etwas in die Jahre gekommener Satz stieg in meinen Gedanken auf. Immer
           du weißt doch, dass wir wissen, wer hier welche Fragen dem Kanzler stellen wird, damit die   wieder gab es spezielle Zimmer, die verschwanden, wie der sie hervorbringende Zeitgeist,
           Antworten stimmen. Danach, das Kanzler-Treffen war nach nur knapp einer Stunde vorüber,  der sie einst für unabdingbar erklärte. Ganze Regalmeter von historischen „Innen-Dekorati-
           folgte ein „Meet the Press“ mit dem Bundeskanzler, abseits des Podiums. Herr Pleitgen von   on“-Ausgaben künden davon: Billardzimmer, Frühstückszimmer, Herrenzimmer, Damen-
           CNN preschte vor, umringt von gleich drei Kamerateams. Seine Frage und die englisch   zimmer, dann – in den körperbewussten 1920er-Jahren – ergänzt durch das Fitness-Zimmer
           gesprochene Antwort des Bundeskanzlers fanden sich am nächsten Morgen auf jedem  mit Medizinball und Sprossenwand, und – in den 1950er Jahren – abgelöst vom Hobbyraum
           TV-Sender: What about Elon Musk? „Disgusting“! Ich machte ein paar Fotos, sprach noch   und einem separaten Kinderspielzimmer. Letzteres sogar als geforderter, aber nie Realität
           ein paar Worte mit der Sozialsenatorin Kiziltepe und ging. Ich                 gewordener Standard im sozialen  Wohnungsbau. Danach
           hatte mehr Zeit für das Kanzler-Treffen eingeplant, was tun jetzt              schwappte eine überraschend vergnügungssüchtige Welle durch
           mit dem leeren, angebrochenen Abend? In eine moderne Woh-                      die Welt des Wohnens: Der Partyraum, meist als (Keller-)Bar!
           nung gehört auf jeden Fall ein Playroom. „Ein was?“ „Ein Play-                 Zwar wurde dort oft nicht mehr als ein-, zweimal im Jahr das
           room!“ Erkan hatte mir davon erzählt,  vor einigen Wochen.                     schummerige Kneipenlicht angeknipst, um irgendein Abitur, eine
           versuchen. Vor zwei Monaten ist Erkan umgezogen, in seine erste,  Foto: Benjamin Reding - Presse-Meeting, Kanzler, 28.1.25  ren – nach (Dorf-)Diskothek aussah, umso mehr Prestige brachte
                                                                                          Verlobung oder einen 50. Geburtstag zu feiern, aber je größer und
           Erkan ist 30, Innenarchitekt, tätowiert bis zum Kopf, geht zweimal
                                                                                          perfekter das Ding nach „echter Kneipe“ oder – ab den 1970er-Jah-
           die Woche ins Gym und ist seit einigen Jahren in der sex-positiven
           Szene unterwegs. Sex-positiv, so beschreibt sich die Szene selbst.
                                                                                          es ein. Jetzt also der Playroom! Ort des ungenierten Hedonismus,
           Junge, experimentierfreudige Menschen, die sich bis dato im Ber-
                                                                                          der sorglos praktizierten Lust und Lebensfreude. „Ein bisschen
           ghain, im Insomnia, dem KitKat und anderen sexuell offenen
           Clubs der Hauptstadt tummelten, um über alle Grenzen aller
                                                                                          sollte es wie die Lounge im KitKat-Club aussehen!“ Behutsam
                                                                                          strich Erkan über den lack-glänzenden Plastikbezug der Barho-
           Geschlechter, auch aller gesellschaftlichen Konventionen hinweg,
                                                                                          cker. „Und warum gehst Du dann nicht einfach da hin, in die
           erotische Freuden miteinander zu erleben. Oder es jedenfalls zu
                                                                                          Lounge im KitKat-Club?“ Die Frage klang nüchtern, ungewollt
           eigene Wohnung, direkt im Zentrum. Und er hat sie, selbstredend für einen Innenarchitek-  hart. „Weil solche Orte mehr und mehr verschwinden. Der Immobilien-Hype frisst sie auf.“
           ten, persönlich umgebaut und selbst entworfen. „Schau’s Dir an!“ Mehrfach hatte er mich   Ich nickte. „Und auch der Zeitgeist dreht sich gegen uns. Die Linken sagen, wir sind zu
           dazu aufgefordert. Der Regen nieselte, der Tag dämmerte, vom Kanzler-Treffen bis zu ihm   sexistisch und patriarchal und kümmern uns nur um uns selbst und nicht um den Klima-
           war es nicht weit, drei Stationen mit der U-Bahn. Gesetzte, gutbürgerliche Wohngegend.   schutz, und die Rechten sind ja eh gegen jeden freien Spaß. Jetzt muss es zurückkehren ins
           Gründerzeit-Mietshäuser mit Erkern, Stuck und Vorgärtchen. Sein Haus war frisch renoviert,   Private, in die Wohnung, in den Playroom. „Wenn die AfD gewinnt, wird bestimmt auch das
           mit maßgefertigten Isolierglasfenstern und gülden eloxiertem Klingelbrett. Hinter der Fassa-  noch verboten.“ Erkan seufzte. Maik und Aishe schauten zu uns herüber, etwas ratlos.
           de ging es sachlicher zu: Zweiter Hinterhof,  Treppenaufgang links neben den Müllkästen.   „Sollen wir jetzt mal langsam weiter…?“ Aishe blickte Erkan erwartungsvoll an. Er lächelte.
           „Hey, willkommen im Playroom!“ Erkan stand an der Tür, grinste breit und öffnete melodra-  Und drehte sich plötzlich zu mir um: „Und Du? Machst Du auch mit?!“ Auf dem langen,
           matisch die angelehnte Wohnungstür. Sein Gesicht war gerötet, sein T-Shirt durchge-  regennassen Heimweg sah ich einen Betrunkenen auf der Hauptstraße über die Fahrbahnen
           schwitzt. „Leg erstmal ab!“ Er deutete auf die Garderobe. Hartkantige Holzflächen, exzellen-  torkeln. Vor den Wahlplakaten auf dem Randstreifen blieb er stehen. Plötzlich, seltsam ruhig
           te Tischlerarbeit in der Trendfarbe Dunkelgrau. „Anthrazit. Alles Anthrazit!“ Es roch nach  und konzentriert, betrachtete er sie, las die Slogans: Von „Sicherheit“, „Wachstum“, „Frie-
           frischer Farbe, frischem Holz und Lösungsmitteln. Die Wohnung war klein. „Nur 46 Quad-  den“ und viel von „Deutschland“ kündeten sie. Dann holte er kräftig aus und trat zu. Gegen
           ratmeter, aber es wirkt viel größer, was?“ Die Stuckdecke hoch. „Über drei Meter!“ Ich   die Plakate, jedes einzelne, ganz gleich von welcher Partei. Dann, schwer atmend, betrach-
           schaute mich um: Eine junge Frau saß auf einem schwarzen Ledersofa, eilig in ein Bade-  tete er sein Zerstörungswerk und stapfte, unsicher, aber ernüchtert, von dannen. Wenn
           handtuch geschlungen, neben ihr ein junger Mann, tätowiert wie Erkan, mit nacktem Ober-  diese Kolumne erscheint, wird die Bundestagswahl eine Woche her sein. Die Mehrheiten
           körper. Beide nippten an Cocktailgläsern, lächelten etwas verlegen zu mir herüber. „Das  werden andere sein, auch der Kanzler wird ein anderer sein, auch die bisherige politische
           sind Aishe und Maik, gute Freunde von mir.“ „Hi“, sagte ich. „Merhaba“, sagte Aishe,  Farbenlehre wird nicht mehr gelten. „Aber mehr Freiheiten, die kriegen wir nie!“ Der
           „Moin“, sagte Maik. Dann nippten beide weiter an ihren Cocktails, taten, als wäre ich phy-  Betrunkene brüllte es als letzten Gruß in die Nacht. Ob er recht behält, es wird sich zeigen.

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