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Dr. Michael Koch
1953 in Caracas, Venezuela, geboren 1972–1979 Studium der Architektur und Stadtplanung in Stuttgart
1976–1985 Mit ar beit im Büro von Chen Kuen Lee in Stuttgart seit 1983 Inhaber des Büros Planung+Umwelt in
Stuttgart (Stadt- und Landschaftsplanung, Umweltprüfungen) seit 2009 Professor an der TU Kaiserslautern Chen Kuen Lee (1915–2003)
Ein prägendes Element Lee´scher Bauten ist das Dach, das wie im Haus Straub senior, 1955-1956, den Wohn bereich weiträumig überspannt und eine aus verschiedenen Komponenten bestehende Dachlandschaft bildet.
C hen Kuen Lee war ein Architekt des Neuen Bauens. Er kam 1931 zum Stu dium nach diese Idee entwickelte, betrachtete auch Lee seine Bauten als Raum-Zeit-Kontinuen, in
denen der Mensch durch seine Tätigkeiten und Bewegungen sich und seine Umgebung
Deutschland, lernte bei Hans Pölzig, studierte in Berlin und Braun schweig, arbei-
tete mit Hans Scharoun und Hugo Häring an der Idee eines „Chinesischen Werkbundes“ wahrnimmt und sein Leben gestaltet. Mit offenen, dynamischen Raumfolgen, die eine
und war von 1947 bis 1953 Mitarbeiter im Büro von Scharoun, bevor er sich als Architekt möglichst große Vielfalt an Aktivitäten und Blickbeziehungen bieten sollten, wollte Lee
selbstständig machte. Bei seinen Projekten konzentrierte sich Lee im Wesentlichen auf seinen Bauherren diese Entfaltung des menschli chen Wesens ermöglichen. Er verstand
den Wohnungsbau, wobei er Lö sun gen für die unterschiedlichsten Wohnformen und Wohnen als einen bewussten Akt, dem das Haus eine Bühne bietet. Die geistige Ent -
Bewoh ner ausarbeiten konnte. So umfasst sein Werk neben Einzelhäusern und wicklung des Menschen, wie sie im 20. Jahrhundert auch in den Künsten (zum Beispiel
Landvillen vor allem Apartment- und Reihenhäuser sowie Geschosswohnungsbauten. bei Wassily Kandinsky) oder in der Musik (zum Beispiel im Jazz, den Lee sehr liebte) the-
Lee war dabei zeitlebens ein Vertreter des Organischen Bauens, das eine spezifische matisiert wurde, sollte durch das Haus gefördert werden. Die freie Grundrissgestaltung
Lösung für die konkrete Bauaufgabe und die späteren Nutzer sowie für den jeweiligen mit ineinanderfließenden Räumen konnte jedoch nur durch freitragende Konstruktionen
Standort sucht. Grundlage des Entwurfs sind hierbei die Funktionsabläufe im Innern der erreicht werden. Bei vielen Bauten war es der Statiker und Brückenbauer Christian
Gebäude sowie die Beziehungen und Kombinationen der verschiedenen Bereiche Sät tele, mit dem Lee zeitlebens befreundet war, der die Konstruk tio nen der Dächer zu
untereinander. Durch das Entwerfen von innen nach außen ergibt sich die Gestalt des leich ten Tragwerken formte, die nur an wenigen Stellen auf Stützen oder Mauerscheiben
Gebäudes als Erfüllung seiner Funktionen. Formen werden nicht gesetzt, sie ergeben aufliegen. Die Materie (Konstruktion) wird der Idee des Innenraumes untergeordnet.
sich aus dem Raumgefüge. Der Grundriss wird nicht einer äußerlich aufgesetzten, Hier bei bildet das Dach oftmals eine in verschiedene Rich tungen gefaltete Landschaft mit
geometrischen Form untergeordnet, sondern er formt die Hülle. Hiermit steht Lee in der unterschiedlichen Ausblicken in die Umgebung und wech selnden Lichtfüh rungen. Es
Tradition von Frank Lloyd Wright, Hugo Häring und Hans Scharoun. wird zum prägenden Element Lee´scher Bauten, das in den meisten Fällen den Wohn -
bereich weiträumig überspannt und eine aus verschiedenen Komponenten bestehende
Entfaltung des individuellen Lebens Dachlandschaft mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Neigungen bildet. Es stellt mit
seinen oftmals großen Auskragungen Beziehungen zwischen Haus und Umge bung her.
Das Haus stellt für Lee die dritte Haut des Menschen dar. Es bietet ihm die Möglichkeit, Es überdeckt Aufenthaltsbereiche vor dem Haus, betont verschiedene Aussichts situa -
sein Leben zu gestalten, Position zu beziehen. So wird das Haus zum geistigen Ausdruck tionen und ermöglicht unterschiedliche Belichtungen im Gebäudeinneren. Für Lee war
des Lebens. Lee hat seine Arbeit immer als Dienstleistung an seinen Bauherrn ver- das Dach ein Symbol für den Himmel, der einerseits Schutz und Geborgenheit bietet, an -
standen, mit denen er den Kontakt intensiv pflegte – vom Beginn des Entwerfens bis de rer seits sich in verschiedene Richtungen öffnet. Lee verfolgte in der Gestaltung seiner
Jahrzehnte nach Fertig stel lung der Gebäude. Die Bauherren waren seine Familie, die Bauten ein ganzheitliches Erleben. Alle Sinne sollten gleichermaßen angeregt werden.
Häuser seine Kinder. Bauen war für ihn eine Auslegung des Lebens in einem umfas sen - Jedes Element sei ner Bauten wurde zur Gestaltung genutzt, um die Erlebnisqualität
den Sinn. „Ein Architekt muss das Leben kennenlernen.“ So charakterisierte Lee seinen durch Material, Belich tung und Schattenwurf, Farbgebung und Plastizität zu steigern.
Entwurfsansatz anlässlich der ersten Ausstellung seiner Bauten in der Weißenhofgalerie Fassaden wurden aufge löst – durch große und unterschiedliche Fensterflächen, durch
in Stuttgart im Jahr 1985. Die Aufgabe des Menschen bestand für ihn in der Entfaltung Vor- und Rücksprünge, aus kra gende Ober geschosse und Dachflächen, sodass je nach
eines individuellen Lebens. Diese Entfaltung sollte im Bewusstsein seiner Einbindung in Lichteinfall und Sonnenstand ein anderer Eindruck entstand. Fenster wurden sehr unter-
den sozialen, kulturellen und physischen Kontext erfolgen. Wie Scharoun, mit dem er schiedlich geformt, Balkon brüs tun gen wurden in verschiedenen Neigungen, Rundungen
AIT 3.2016 • 127