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REDINGS ESSAY


                                                     UM 1600








                                                            Ein Essay von Benjamin Reding







           R  om, Herbst 1961: Die XVII. Olympischen Spiele sind seit ein paar Monaten vorüber,   Schulklasse auf Abschlussfahrt, sie umschwärmten die Stände, verglichen Preis und
                                                                         Qualität der imitierten Edelmarken. Nur ein Schüler spähte nach anderen Dingen. Und
              Federico Fellinis „La Dolce Vita“ läuft in allen Kinos der Stadt, er selbst dreht im
           Mussolini-Stadtviertel EUR. sein „Boccaccio ’70“, Filmstars wie Elizabeth Taylor und  plötzlich, zwischen all dem Tinnef entdeckte er etwas: Eine Zeichnung. Tusche, laviert,
           Richard Burton weilen für „antike“ Film-Epen in Cinecittà und lassen sich danach   auf schwerem Büttenpapier. Der Entwurf eines Altares, zweifellos Barock, echtes, frü-
           absichtsvoll „heimlich“ in schicken Bars in Trastevere fotografieren. Der Begriff „Papa-  hes, römisches Barock. „Costa 70.000 Lire“, sagte die junge Frau am Marktstand gelang-
           razzo“ wird in jenen Tagen in Rom erfunden. Und, etwas weniger beachtet, verbringt  weilt. Der Schüler rechnete: 70.000 Lire, das sind 70 DM. Für die einwöchige Fahrt hat-
           ein junger Literatur-Stipendiat der Akademie Villa Massimo seine letzten Stipendiums-  ten ihm seine Eltern 200 Mark mitgegeben. Es würde dann nicht mehr reichen. „Alora?“
           Tage zwischen Tiber und Palatin. Seine Kommilitonen gönnten sich vom Stipendiums-  Die Marktfrau drängte. „No money… Non ho soldi”, sagte der Schüler und trabte zurück
           Salär Sportwagen, Maßanzüge und Rolex-Armbanduhren, er aber lud seine Geschwi-  zu seinen mit falschen Lacoste-Pullovern schwer bepackten Mitschülern. Eine deutsche
           ster nach Rom ein, schenkte ihnen Hotel und Aufenthalt und zog mit den restlichen Lire   Großstadt, Herbst 2022: Hier, zwischen wuchtigen Ost-Plattenbauten und einer sechs-
           los, um etwas zu erwerben, das ihn an Rom, die Città Eterna, sein Jahr dort erinnern   spurigen Innenstadtstraße hätte man ihn niemals vermutet. Er residiert im 14. Stock.
           sollte. Aber auch das hätte er nicht gemacht, nicht gewollt, nicht geplant. Sein Atelier-  Der bekannte Drehbuchautor, dessen „Tatorte” Legende sind. Ich kannte diese Platten-
           Nachbar war Toni Stadler, der berühmte Bildhauer, der Ehrengast der Akademie. Aus   bauwohnungen mit ihren seltsam lichtlos-verschachtelten Grundrissen, hier aber war
           Ton formte Stadler, Tag für Tag, Nacht für Nacht, seine Figuren. Ideenskizzen für spätere,   es anders. Er öffnete lächelnd die niedrige Wohnungstür, dahinter nur EIN Raum, alle
           voluminösere Ausführungen in Stein oder Bronze. Oft lugte der junge Literatur-Stipen-  Zwischenwände entfernt, die ganze Hochhausetage war ein einziges, sein Apartment.
           diat in das Atelier seines geachteten Nachbarn,                                          Freundlich führte er mich herum und zeigte mir,
           soll man Rom nicht verlassen. Der Stipendiat  Foto: Benjamin Reding von Tusche-Vorzeichnung zu Kuperfstich des holländischen Kupferstechers  Jan van de Velde II aus dem Jahre 1620.
           bewunderte, bestaunte, liebte dessen Arbeit,                                             wofür wir uns verabredet hatten: Seine Samm-
           seine Bildhauerkunst. Eines Nachts, in einem                                             lung expressionistischer und neusachlicher
           Akt kreativer Verzweiflung, bedrängt auch von                                            Kunst, eine der besten privaten Sammlungen
           der Über-Kunst seiner römischen Kollegen, von                                            in Deutschland. Kirchner, Dix, Birkle, Feinin-
           Bernini bis Buonarroti, zerschlug Toni Stadler                                           ger, Schlemmer und derlei mehr. Er erzählte
           alle seine in Rom bis dahin geschaffenen Arbei-                                          von seinen ersten Kunsterwerbungen, als noch
           ten und warf sie in heiligem Zorn hinaus aus                                             unbedarfter Jurastudent einst in München. Er
           dem nächtlichen Atelier. Dort lagen sie tagelang,                                        habe immer nur gekauft, was ihn beeindruckt
           bis der junge Literatur-Stipendiat sich erbarmte,                                        habe und das er „sich auch leisten konnte“,
           die Reste zusammenpackte und sie in seinem                                               setzte er schmunzelnd nach, nie jedenfalls habe
           Zimmer aufstellte. Voller Freude, diese Köpfe,                                           er etwas spekulativ gekauft. Nun aber kannte
           Körper, tönernen Hände, Arme, Beine – die auch                                           er jedes Auktionsergebnis, jeden Spitzenpreis,
           in ihrem desolaten Zustand noch schön waren,                                             jeden Akteur des Kunstmarkts genauer als ein
           ja kraftvoller, ehrlicher, schöner vielleicht sogar,                                     Tatort-Kommissar die jeweilige Filmleiche. Und
           als alle fertigen, vollendeten „Puppen” – gerettet                                       ich, ohne Kunstsammlung, ohne Dix und Kirch-
           zu haben. Die Freude währte nur kurz. Profes-                                            ner, erzählte von dem jungen Villa-Massimo-
           sor Stadler sah die Reste, zürnte und zwang den                                          Stipendiaten, meinem Vater, und seiner „Bea-
           jungen Stipendiaten, die Trümmer vor seinen                                              trice“ und von dem Abschlussfahrtschüler, der
           Augen zu zerschlagen. Was der junge Stipendi-                                            sich in Rom eine barocke Altarzeichnung nicht
           at wie befohlen tat. Aber ohne Kunst kann und                                            leisten konnte und sich seither grämte, dieses
                                                                                                    Blatt nicht erworben zu haben. Besser, er hätte
           zog also mit den letzten Lira los. Er besuchte nicht die edlen Galerien, nicht den exklu-  gehungert. Und ja, der Schüler war ich. Da erhob sich plötzlich der Drehbuchautor und
           siven Kunsthandel, die hohen, kühlen Räume an der Via Veneto. Er suchte im Trödel,   deutete, vielleicht war es als Trost gedacht, auf das Bild eines mir unbekannten Malers,
           in den Hinterhofschuppen, in den Lagerhäusern mit ihren Nachlässen und verstaubtem  prominent hinter seinem Schreibtisch platziert, und rief: „Das habe ich gemalt. Nur
           Mobiliar. Und fand Gemälde, gestapelt zu meterhohen Türmen, zog, soweit es die Statik  eines ist schöner als Kunst zu sammeln, sie selbst zu machen!” Prag, vor zwei Mona-
           zuließ, hie und da ein Bild hervor, ließ es auf sich wirken und entschied sich dann   ten: Ein unbedeutendes Antiquariat am Stadtrand. Im Schaufenster Architekturbücher:
           nach einigen Anläufen und im Vertrauen auf die eigene Intuition für ein einziges davon.   Art Déco, Neues Bauen, 1920er- und 1930er-Jahre. Vintagebooks, vergilbt, verknittert,
           Ein Bild, von dem er später scherzhaft sagen würde, es sei das Original, im National-  würdevoll zerlesen. Und dahinter, im billigen Baumarkt-Rähmchen, eine Zeichnung:
           museum, dem Palazzo Barberini hinge nur eine Kopie: Das Porträt der Beatrice Cenci,   Ein knorriger, schattenspendender Baum, links und rechts flankiert von zwei antiken,
           der jungen, unschuldig-schuldigen Mörderin, besucht und gemalt um 1599 von Guido   von Unkraut umwucherten Ruinen und im Hintergrund, im harten Licht des Südens,
           Reni. Im D-Zug zurück nach Deutschland nahm der Stipendiat das Bild mit, hochkant   eine Kirche mit mächtiger Kuppel. Es könnte der Petersdom, es könnte Rom, es könnte
           eingeklemmt zwischen seinen Knien. Rom, 35 Jahre später: Asiatische Billigkopien von   eine originale Tuschezeichnung um 1600 sein! Ich betrat den Laden, ich sprach mit dem
           „Esprit“, „Lacoste“, „Adidas“ – Hosen, Jacken, Sweatshirts, je nach Stand für ein paar   Antiquar, ein älterer, mürrischer Herr. Eine Woche Prag-Aufenthalt sollte sie kosten. Ich
           Lire mehr oder weniger. Einer dieser Touristen-Trödelmärkte am Rand der Innenstadt,   rechnete, ich zögerte, ich kaufte die Zeichnung. Und lachte befreit wie ein Kind, als ich
           zwischen nach Benzin und Abfall müffelnden Parkplätzen und öden Hotelfassaden. Eine   durch Regen und Schnee zurück zum Bahnhof stapfte.

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