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Giancarlo de Carlo
                Foto: Fondazione Ca´ Romanino  1919 in Genua geboren 1942–1949 Architekturstudium in Venedig und


                                     Mailand 1950 eigenes Architekturbüro in Mailand 1952–1960 CIAM-Mit -
                                     glied 1953–1981 Grün dungs mit glied Team X 2005 in Mailand verstorben
































                Ein knallroter, abgehängter Kamin fängt alle Blicke. • A bright red, suspended fireplace is an eye-catcher.  Wandsprossen erschließen die Höhe des Raumes. • Wall bars make the height of the room accessible.


                von • by Dr. Uwe Bresan
                W     ir werden mit Musik empfangen! Italienische Discosounds dröhnen in infernali-  ren de Carlo aufmerksam geworden, als er den Architekten für Umbaumaßnahmen am
                                                                              historischen Hauptgebäude der Universität in der Altstadt von Urbino engagierte. Neben,
                      scher Lautstärke durch das enge Tal. Die letzte Ortschaft liegt knapp drei Kilome-
                ter hinter uns; bis zur nächsten wären es noch einmal fünf. Der Abzweig, den wir hier  unter anderen, Peter Smithson und Aldo van Eyck gehörte de Carlo damals zu den Grün-
                laut Wegbeschreibung von der Landstraße nehmen sollen, entpuppt sich als steil anstei-  dungsmitgliedern des legendären Team X, das sich im Zuge der späten CIAM-Kongresse
                gender, kaum befahrbarer Geröllpfad. Wir verzichten auf die Prüfung und stellen unseren  der 1950er-Jahre kritisch mit dem rigiden Funktionalismus auseinandersetzte, der nach
                asiatischen Kleinwagen lieber vorsichtig am Straßenrand ab. Die letzte Strecke legen wir  dem Zweiten Weltkrieg Stadtplanung und Architektur international beherrschte. Aus der
                zu Fuß zurück. Mahmoods „Barrio“, der italienische Spätsommerhit dieses Jahres, be-  ersten Zusammenarbeit von Bo und de Carlo entwickelte sich bald nicht nur eine lebens-
                gleitet uns in Partylautstärke durch die Mittagshitze. Je näher wir mit jedem Schritt der  lange Freundschaft, sondern auch eine in ihrem institutionellen Rahmen für das späte
                Quelle der Musik kommen, desto steiler wird der Weg – bis sich die Bäume lichten und  20. Jahrhundert geradezu außergewöhnliche und in ihrem Wirken auch noch überaus
                wir  uns  unvermittelt  am  Fuße  eines  kleinen  Weinbergs  wiederfinden.  Mahmoods  glückliche Bauherren-Architekten-Beziehung. So erlaubten es de Carlo die Aufträge, die
                Stimme dringt aus zwei Lautsprecherboxen vom oberen Rand des Hangs herunter. Hinter  er über mehr als ein halbes Jahrhundert vonseiten der Universität erhielt, die Stadt Ur-
                den Reben erhebt sich die Ca´ Romanino. Wir haben unser Ziel erreicht!      bino zu seinem urbanistischen und architektonischen Experimentierfeld zu machen und
                                                                              hier seine ganz spezifische Form eines kritischen Regionalismus zu pflegen. Die Stadt
                Am Anfang stand die Liebe der Bauherren zum Wein              und die Universität verdanken ihm bis heute viel!

                Die Architektin Maria Giulia Guidi aus Urbino nimmt uns vor der Mauer herzlich in Emp-  Der Architekt war oft selbst zu Gast in seinem Haus
                fang und entschuldigt sich sofort für die ohrenbetäubende Lautstärke. Die Musik diene
                dazu, in der Erntezeit Ende September die Vögel vom Weinberg fernzuhalten. Die Be-  Innerhalb von de Carlos Werk nimmt die Ca´ Romanino als frei stehendes Wohnhaus
                schallung des gesamten Tals folgt also durchaus einem guten Zweck. Das leuchtet uns  eine Sonderstellung ein. Zweifellos baute der Architekt am liebsten für die Gemeinschaft.
                spätestens ein, als wir am Abend eine Flasche des roten Landweins probieren. Es war  Dass er für Sichirollo und Morra eine Ausnahme machte, deutet auf das freundschaftliche
                dieser Wein, der Mitte der 1960er-Jahre auch den Philosophie-Professor Livio Sichirollo  Verhältnis des Architekten zu seinen Bauherren hin. Und Maria Giulia, unsere Führerin,
                und seine Frau, die Lehrerin Sonia Morra, aus dem knapp sieben Kilometer entfernten  kann bestätigen, dass der Architekt oft selbst im Haus zu Gast war. Sein Gebäude zu ver-
                Urbino hierherführte. Damals erwarben sie den Berg von einem Bauern aus der Umge-  stehen fällt allerdings auch vor Ort nicht ganz leicht. De Carlo schuf ein hochkomplexes
                bung und ließen sich von Giancarlo de Carlo auf dessen Spitze ein großzügiges Wochen-  räumliches Gebilde, dessen Formgebung von zahlreichen Rahmenbedingungen beein-
                endhaus für sich und ihre Freunde errichten. 2013 überführte die mittlerweile über 80-  flusst war. So musste unter anderem der alte Weinkeller, der auf dem Plateau stand, in
                jährige Sonia Morra das gesamte Anwesen in eine Stiftung, die sich seither um den Erhalt  den Bau integriert werden. Außerdem sollte eine mächtige Baumgruppe im Zentrum des
                des Hauses, den Weinanbau und – nicht zuletzt – das Andenken des Architekten küm-  Bauplatzes erhalten bleiben. Aus diesen Vorgaben entwickelte de Carlo einen L-förmigen
                mert. Neben Besichtigungstouren bietet die Fondazione Ca´ Romanino zwischen April  Baukörper, der einerseits an den Bestand des Weinkellers anschließt und zum anderen
                und Dezember auch die Möglichkeit, das Haus mit bis zu vier Personen für 24 Stunden  mit diesem gemeinsam einen großen Hof umschließt, der die besagte Baumgruppe auf-
                zu bewohnen. Kennengelernt hatten sich die Bauherren und de Carlo im Umfeld von  nimmt. Der ebenerdige Zugang zum Haus erfolgt über diesen Hof in Form eines langen,
                Carlo Bo, dem einflussreichen Rektor der Universität von Urbino, der die Geschicke der  schmalen und zudem um 90 Grad abgewinkelten Ganges, der sich zwischen den Stütz-
                privaten Hochschule zwischen 1947 und seinem Tod 2001 über mehr als fünf Jahrzehnte  mauern des alten Weinkellers öffnet. Der dem Weinkeller gegenüber liegende Neubau-
                hinweg bestimmte. Bo war in den frühen 1950er-Jahren auf den nur wenige Jahre jünge-  trakt ist zweigeschossig ausgeführt. Das Obergeschoss kann separat über eine Brücke,

                                                                                                                              AIT 12.2019  •  045
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