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Seminarteilnehmer


                                                                              Studenten: Wolfram Harle, Tobias Kappelhoff, Victor Loff, Nicole Müller, Jan Neflin, Philipp Schaugg
                                                                              Betreuer: Sebastian Fatmann, Benedikt Bosch (Universität Stuttgart, IÖB Institut für öffentliche Bauten
                                                                              und Entwerfen), Dr. Uwe Bresan (Gastdozent)



































                Mit dem Rücken zur Wand entdeckte Wolfram Harle auf der Seminarreise auch sein poetisches Talent.  Von seinem Arbeitsplatz am großen Esstisch aus blickt Jan Neflin direkt auf die alte, steinerne Gartentreppe.


                Wolfram Harle: Wand                                           Jan Neflin: Treppe
                Es ist heiß, die Sonne brennt unbarmherzig herab und ich flüchte mich in den Schatten  Das eingerostete Gartentor gibt ein gequältes Geräusch von sich, als ich es vorsichtig auf-
                einer Gartenmauer. Mit dem Rücken an den Stein gepresst, genieße ich den Augen blick  schiebe. Ich betrete den Garten und schon erhebt sich vor mir wie ein Felsen aus dem
                der Dunkelheit und Ruhe. Ein Wassertropfen sucht sich den Weg über die hervorste-  Ne bel  der  sogenannte  Roccolo-Turm  von  Miller  &  Maranta.  Nach  einigen  zaghaften
                henden Steine hinab und sickert kühlend durch mein Hemd, als wäre es die Wand  Schritten  gelange  ich  zur  Eingangstür  des  Gebäudes.  Mein  Blick  wandert  durch  den
                selbst, die mich willkommen heißt und mir zu zeigen versucht, wie treu sie zu ihrem  Eingangsbereich: Die Wände leuchten in einem matten Weiß, die gleichmäßige Estrich -
                Ver sprechen von Schutz und Geborgenheit steht. Eine Echse klettert aus den Büschen  oberfläche des Fuß bodens schimmert gräulich – ebenso wie die Treppe, die im hinteren
                herauf die Wand empor. Senkrecht, wie durch Zauberhand an den Stein gehalten. Ich  Teil des Raumes zu erkennen ist. Sie führt ums Eck, ihre Decke folgt der Treppensteigung.
                neige den Kopf und fasse das Tier genau ins Auge. Auf einmal fällt es schwer zu glau-  Wie durch einen Tunnel zieht es mich nach oben. Ich erklimme die ersten 17 Stufen, auf
                ben, dass sie sich nicht auf ebenem Boden befindet. Der gestapelte Fels wirkt aus die-  die ein lang gezogener Absatz folgt. Der Weg führt an Türen und Fenstern vorbei. Plötzlich
                ser Perspektive wie ein gepflasterter Untergrund; das in den schattigen Ritzen wachsen-  biegt er nach links ab, es folgen fünf weitere Stufen. Noch mal links! Vier Stufen! Links!
                de Moos dabei zu kleinteilig, als dass es wirklich Aufschluss über eine Ausrichtung  Sechs Stufen! ... Ich laufe immer schneller, nehme nun zwei Stufen auf einmal. Das Licht
                geben könnte. Ich frage mich, ob das Tier erkennt, dass es sich in der Steile befindet,  wird diffuser. Wohin führt diese sich windende, sich in die Höhe schraubende Höhle?
                oder ob ihm Wand und Boden einerlei sind. Eine Welt, in der alle Wände nur senkrech-  Wie lange laufe ich schon? Plötzlich wird es wieder hell. Drei Stufen noch! Keuchend er -
                te Böden sind! Eine Welt mit nur einem einzigen allumfassenden Boden! Eine Welt  reiche ich den obersten Raum des Turmes, der von zwei großen Fenstern in Sonnenlicht
                ohne Raum! Ohne die Echse aus den Augen zu lassen, setze ich mich langsam auf  getaucht wird. Ich werfe einen Blick hinaus: Gegenüber erkenne ich die Villa Garbald.
                einen Stuhl und ziehe Stift und Papier heran. Während ich nun wieder aufrecht sitze,  Der  Nebel  hat  sich  inzwischen  verflüchtigt,  die  Blumen  im  Garten  recken  sich  zum
                krabbelt sie gen Himmel an mir vorbei und ist kurz davor, am oberen Rand der Wand  Himmel. Eine Treppe verbindet den oberen Garten mit dem altehrwürdigen Haus. Ihre
                zu verschwinden. Mit immer noch fixiertem Blick beginne ich zu schreiben und achte  Stein stufen glänzen im warmen Licht der Sonne. Wie ein Flussbett windet sie sich zwi-
                dabei  genau  auf  das  Verhalten  des  Tieres,  als  würde  mir  dieses  über  seine  schen zwei mächtigen Steinmauern hindurch. Selbst von hier oben erkenne ich, dass ihre
                Körpersprache sein ganz eigenes Verständnis von Wand und Stein vermitteln wollen:   Stufen eigentlich zu steil, zu unregelmäßig sind. Trotzdem beschleicht mich ein angeneh-
                                                                              mes Gefühl der Vertrautheit. Die Treppe erinnert mich an toskanische Städte, an enge
                                  Von unten hoch / Gerecht gestellt.          Gassen, steile Anstiege. Wie selbstverständlich führt sie von einem Niveau auf das ande-
                                 Mit Stein auf Stein / Stein, der verfällt.   re. Sie ist ein gelungener Gegensatz zu der Treppe des Roccolo. Dessen Treppe überrascht
                                   Der eine vor / Der andere nicht.           den Besucher, spielt mit seinen Erwartungen und mit der Geschossigkeit des Gebäudes
                                  Ein Schattenspiel / Von dir im Licht.       insgesamt. An keiner Stelle ist man sich sicher, auf welcher Ebene des Hauses man gera-
                                  Und flächig doch / Zu allen Seiten.         de angelangt ist und in welche Richtung der Weg weiterführt. Das Gefühl der Vertrautheit
                                 Den Raum darum / Bist Du am Leiten.          geht in diesem Treppenhaus verloren. Ganz anders das Gefühl auf der einfachen und
                                  Und am Fassen / Und am Trennen.             rudimentären  Gartentreppe:  Zweckmäßig,  geradlinig  und  schnörkellos  dient  sie  dem
                                 Die Tiefe nur / Ist schwer zu nennen.        Überwinden des Geländesprungs. Ein Gedanke keimt in mir auf: Dass sich die beiden
                                 Da reicht zum Sehen / Nicht der Blick.       Treppen in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen. Die Besonderheit der einen neh me ich nur
                                 Die Hand Dich drückt / Und Du zurück.        durch die Selbstverständlichkeit der anderen wahr ... und umgekehrt!

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