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Foto: Rommen & Bravenboer, Rotterdam Gemma Koppen Dr. Tanja C. Vollmer Foto: Rommen & Bravenboer, Rotterdam
Studium: Psychologie, Biologie, Promotion Univ. Göttingen; Gesundheits-
Studium Architektur: TU Delft, Urban Design: Pratt Institute, Advanced
Architectural Design: Columbia University, NYC 2009 Gründung Kopvol
psychologie, Harvard Medical School Boston 2009 Gründung Kopvol architecture
& psychology in Rotterdam 2016–2018 Gastprof. Architekturpsychologie TU
architecture & psychology in Rotterdam 2019 in Berlin 2023 Prof. Entwerfen und
Berlin, seit 2019 Gastprof. Architekturpsychologie u. Gesundheitsbau TU München
Gesundheit Coburg University of Applied Sciences, Leitung Health Design Lab
nung „Raumanthropodysmorphie“ fasst sie komplexe Zusammenhänge in einer simplen
Formel zusammen: „Wenn der Körper schwer erkrankt, erkrankt der Raum mit ihm.“
Zu diesen „Raumerkrankungen“ zählen die messbaren Veränderungen der Wahrneh-
mung Kranker, wie beispielsweise die Herabsetzung der Aufmerksamkeit und Orientie-
rungsfähigkeit, die gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen, der Verlust der
Verarbeitung von Sinnesreizen und die Fehleinschätzung von räumlichen und zeitlichen
Maßen. Diese Symptome treten krankheits - oder therapiebedingt auf sowie infolge exis-
tenzieller psychischer Belastungen. Konkret stellten wir seinerzeit fest: Schwerkranke
erlebten ihre Umgebung plötzlich enger, dunkler und überfüllter und versuchten akri-
bisch, diesem als Bedrohung erlebten Gefühl zu entgehen: Sie mieden die U-Bahn und die
Wartezimmer der Krankenhäuser. Sie schlugen Löcher in die Wände ihrer Wohnzimmer
und verweigerten den Aufenthalt in Therapiezimmern mit geringer Aussicht, teilweise
mit dem Risiko, eine lebenswichtige Therapie nicht erhalten zu können.
La Infirmita: Menschliches Maß für den Gesundheitsbau der Zukunft
Abbildung: Kopvol architecture & psychology ken und anzuregen, sich bei Entwurfsentscheidungen auf diese zu beziehen, entwik-
Um den Fokus der Entwerfenden auf diese Raumwahrnehmungsveränderungen zu len-
kelten wir die Maßfigur La Infirmita (3). Dies ist ein vom Körpererleben und dem damit
verbundenen veränderten Raumerleben Kranker abgeleitetes Maß. Es erweitert das klas-
sische Verständnis einer auf den perfekten Körper bezogenen Architektur, wie sie bei-
abgeleitete psychologische Komponente. Das heißt, die Architektur legt beispielsweise
Raumproportionen und Maße so an, dass Identifikations- und Schutzräume entstehen,
(3) Maßfigur La Infirmita: vom veränderten Raumerleben Kranker abgeleitet spielsweise im Le Modulor repräsentiert wird, um eine aus der Wahrnehmung Kranker
die dem Gefühl von Verlorenheit und Unsicherheit entgegenwirken. Für Gesundheits-
einrichtungen mit sehr spezifischen Zielgruppen wird dieser Ansatz künftig auch öko-
EVIDENZBASIERT N ach 15 Jahren intensiver Forschung zur Raum- und Stresswahrnehmung Schwer- Beispiel über 6000 Menschen mit geistigen Behinderungen. 2021 gab sie ein Gebäude-
nomisch interessant. Die niederländische Organisation Ipse de Bruggen betreut zum
von • by Gemma Koppen und Dr. Tanja C. Vollmer
kranker und zu deren Zusammenhang mit der Krankenhausumgebung gelang uns ensemble in Auftrag, das dazu beitragen soll, die extrem hohe Betreuungsintensität der
2020 endlich der Durchbruch. Wir konnten hinreichend empirisch beweisen, dass sie-
Schwerstbetroffenen zu reduzieren und ihnen auf diesem Weg zu mehr Selbstständigkeit
ben entwurfsrelevante Faktoren, sogenannte Umgebungsvariablen, einen Einfluss auf zu verhelfen (1, 2). Wir entwarfen eine kreuzförmige Wohngebäudetypologie, von deren
die Stresswahrnehmung ausüben und auf die Gesundheit und Genesung einwirken. Wir Zentrum aus alle Innen- und Außenräume einsehbar sind. Pro Gebäude gruppieren sich
nennen diese „Die heilenden Sieben“: 1. Orientierung, 2. Geruchs- und 3. Geräuschku- je fünf Privaträume konzentrisch um diese Mitte, eine offene Wohnküche. Fünf Vorzim-
lisse, 4. Privatheit und Rückzugsraum, 5. Power Points, 6. Aussicht und Weitsicht und 7. mer mit kreisförmigen Wandausschnitten schaffen einen graduellen Übergang vom Grup-
Menschliches Maß (siehe „Bücher“, Seite 80/81, sowie Quellen am Ende des Artikels). pengeschehen zum Rückzugsraum. Das Backsteingebäude begrenzt darüber hinaus vier
Die Grundlage legte 2010 die Rotterdam Studie. Auf 26.000 Quadratmetern ambulanter Gärten so natürlich, dass stigmatisierende Umzäunungen unnötig werden. Es entsteht
Behandlungsfläche untersuchten wir in niederländischen Universitätskliniken, inwieweit schließlich eine Architektur, die als Co-Therapeut fungiert.
bestimmte Entwurfsmerkmale die Stresswahrnehmung von KrebspatientInnen und ihren
gesunden PartnerInnen beeinflussen. Seit Juli (und noch bis Januar 2024) zeigt das Archi- Orientierung im Krankenhaus: ohne komplexe Leitsysteme
tekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne
diese „Heilenden Sieben” in der Ausstellung „Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen Wer ängstlich oder gestresst ist, nimmt seine Umgebung kaum noch wahr. Die Aufmerk-
hilft“. Legen ArchitektInnen ihren Entwurfsentscheidungen wissenschaftliche Erkennt- samkeitsspanne reduziert sich drastisch auf unter drei Minuten. Komplizierte Beschilde-
nisse zugrunde, bezeichnet man das Entwurfsergebnis als „Evidence Based Design“. Die rungen und Wege im Krankenhaus sind dann wenig hilfreich. Eine gesundheitswirksa-
Architekturpsychologie ist die Schlüsseldisziplin der zugehörigen Forschung. Der ame- me Architektur strukturiert und markiert hingegen Bereiche und Wege im Krankenhaus
rikanische Architekturprofessor Roger S. Ulrich prägte 2006 den Begriff. Er bezog sich eindeutig und so, dass es Patienten gelingt, intuitiv – ohne kognitive Anstrengung – ein
dabei auf Studien, die nachwiesen, dass Einbett- statt Mehrbettzimmer, die Reduktion der Ziel zu finden und den eigenen Standort zu bestimmen. Das von Kashef Chowdhury
Geräuschkulisse auf den Stationen und die Schaffung von Blickbeziehungen zu begrün- entworfene Friendship Hospital in Bangladesch ist beispielgebend hierfür (4). Durch
ten Außenräumen einen positiven Einfluss auf das Wohl und Schmerzempfinden sowie Blickbeziehungen nach außen und ordnende Elemente in jedem erdenklichen Maßstab
die Schlafqualität von PatientInnen ausübten. WissenschaftlerInnen in Europa standen gelingt es der Architektur, Stress und Anspannung abzubauen. Trotz massiver budge-
diesem Trend, aus der Grundlagenforschung unmittelbare Handlungsempfehlungen für tärer und umweltbedingter Einschränkungen entstehen ornamentartige Öffnungen und
die Planung von Krankenhäusern abzuleiten, zunächst skeptisch gegenüber. Ihnen fehlte markante Eckausbildungen, die wichtige Orientierungspunkte schaffen. Die Erschließung
zu diesem Zeitpunkt eine schlüssige Theorie, welche die beschriebenen Zusammenhänge des gesamten Ensembles funktioniert vor allem durch den zentralen Wasserkanal. Dieser
hätte erklären können. 2010 gelingt es uns, diese Theorie zu liefern. Unter der Bezeich- durchzieht das Grundstück und schafft eine klare Trennung zwischen ambulanten und
AIT 11.2023 • 121