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Andrea Herold Prof. Tina Kammer
1990-1993 kaufm. Ausbildung, Fernsprachenkorrespondentin 1996-2008 Geschäftsführungs- 1986-1995 Lehre und Tätigkeit als Schreinerin 1995-2000 Studium Innenarchitektur FH Mainz
und Vorstandsassistentin bei Ortho Clinical Diagnostics, Neckargemünd; SAP, Walldorf; Hugo 2001-2009 Architektin bei Jestico+Whiles, London; George P. Johnson, Stuttgart; Hugo Boss,
Boss, Metzingen 2010 Co-Gründerin InteriorPark., Entwicklung von Nachhaltigkeitsstrategien, Metzingen 2010 Co-Gründerin InteriorPark., Stuttgart seit 2022 Professur Fernstudium IU
Nachhaltigkeitsberichte nach CSRD-Richtlinien und GRI-Standards, Buchveröffentlichungen Internationale Hochschule, Aufbau des Bereiches Nachhaltiges und Kreislauffähiges Bauen
Foto: Assemble Studio, Joseph Halligan, London Foto: LUMA Arles, Adrian Deweerdt, Arles
Foto: Joana Luz
Neue, lichte Arbeitsplätze in der ehemaligen Eisenbahnfabrik • New workspaces in the former railway factory Terrazzoboden mit Ziegelresten und gestampfte Lehmwände • Terrazzo floor with brick remnants and clay walls
dass ihre Projekte als nachhaltig eingestuft und durch günstige Konditionen finanziert wer- Lebenszyklus zeigen sich der Einfluss auf die Herkunft und die Art der Herstellung, den
den. Diese Verordnung hat damit direkten Einfluss auf die Arbeit von Planungsbüros, denn damit einhergehenden Einsatz von Rohstoffen und Chemikalien, Transportwege, Energie-
sie müssen eine taxonomiekonforme Planung nachweisen. Bürokratisch ausgedrückt: Die und Wasserverbrauch als auch Rückbaupotenziale. Ohne eine Betrachtung des gesamten
Bewertungskriterien für Baugewerbe und Immobilien sind unter Punkt 7 im Annex 1 der Lebenszyklus ist Architektur und deren Umweltwirkungen nicht zu bewerten: CO ist die
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Verordnung (EU) 2020/852 aufgeführt. Einige der Kriterien beeinflussen den Planungspro- neue Währung. Die Akzeptanz dessen ist die Grundlage für ein neues Verständnis inner-
zess, indem neben Energie-, Wasser- und Ressourcennutzung auch Kreislaufwirtschaft und halb des Prozesses vom immateriellen Entwerfen zur materiellen Ausführung. Es ergeben
Bodenversiegelung wesentliche Rollen spielen. Um diese Aspekte zu berücksichtigen und sich neue Möglichkeiten und neue Denkweisen: Wie lässt sich bereits eingelagertes CO
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positiv zu beeinflussen, müssen Lebenszyklusanalysen durchgeführt werden, die sowohl nutzen? Bei einer durchdachten Planung kann nachgewiesen werden, wie viel CO bereits
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den Bau als auch den Betrieb sowie den Restwert der Immobilie, der verbauten Rohstoffe im Entwurf gelagert wird. Dies geschieht zum einen durch das Wiedereinbringen bereits
inklusive der gespeicherten grauen Energien, am Ende ihrer Nutzungsphase einbeziehen. verbauter Baustoffe oder durch den Einsatz nachwachsender Rohstoffe, die durch ihr
natürliches Wachstum CO bereits einlagern. Nachhaltige Entwicklungen finden derzeit
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Was hat das mit Ästhetik zu tun? genau in diesen beiden Themenfeldern statt.
Wenn wir Ästhetik in der Architektur als Zusammenspiel aus visuellen, sensorischen und Naturphänomene verstehen – auf innovative Techniken übertragen
kontextuellen Faktoren verstehen, die zusammen das emotionale und intellektuelle Erleb-
nis eines Bauwerks bestimmen, dann prägt sie subjektiv und kulturell, aber auch univer- Die Forschung hält ausreichende Lösungsansätze zwischen Technisierung und vernakulä-
sell Prinzipien von Harmonie und Proportion. Dann ist Ästhetik mehr als nur Schönheit. ren Ansätzen bereit. Biointelligente Materialien, die ganz ohne Dünger und Pestizide schnell
Sie prägt und inspiriert jeden Einzelnen und schafft sinnliches Erleben, sowohl unbewusst wachsen, speichern währenddessen viel CO . Obendrein sind sie ohne chemische Zusätze
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wie auch bewusst. Architektur ist aber auch die Summe an Bauprodukten, die seitens der unter anderem resistent gegen Schimmel, Schädlinge und Feuer. Diffusionsoffen sorgen
Industrie erdacht und entwickelt werden. Die Anforderungen an Funktion und Ästhetik sie feuchteregulierend für ein angenehmes Raumklima. Lokal verfügbar und biologisch
sind hoch: Material darf sich nicht verändern, nicht altern, keine Gebrauchsspuren entste- abbaubar entstehen dank modernster Fertigungsmethoden überraschende Ergebnisse.
hen lassen, nicht riechen und muss schmutzabweisend, feuerfest ... sein. Beispielsweise Innovative Herstellungstechniken erlauben trennbare Konstruktionen, sodass die Monoma-
lassen wir Holz vorergrauen, damit wir keine Überraschungen erleben, denn eine natür- terialien jederzeit in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Für bereits bestehende
liche Ergrauung müssten wir, ganz ohne Kontrolle, Wind und Wetter überlassen. Auf der und verbaute Bauprodukte und Materialien bewegen sich die Lösungsansätze zwischen
ganz sicheren Seite bewegen wir uns bei Holzdrucken, die dann je nach Geschmack geal- Technik und Logistik, denn sie müssen demontiert, sortiert und je nach Einsatz überar-
tert oder wie frisch geschnitten aussehen. Die Gestaltung „quasi aus dem Katalog“ ist zwar beitet werden. Diese Herangehensweise bedarf einer ausgeklügelten logistischen Leistung:
praktisch nachvollziehbar und kalkulierbar, aber kann auch ermüden, da sie den Nut- Wo werden die Materialien zwischengelagert? Wie können Angebot und Nachfrage zusam-
zerInnen sinnliche Erfahrungen verweigert. Die Auswirkungen auf Umwelt und Mensch mengebracht werden? Gibt es einen Materialpass, sodass der Hersteller ermittelt und die
durch die dazu notwendigen Lieferketten werden dabei außer Acht gelassen. Raumge- Materialien rückgeführt und überarbeitet werden können? Auch rechtliche Lösungsansätze
staltung ist selten langlebig, aber immer materialintensiv. Das ästhetische Empfinden der zu Gewährleistungsfragen liegen inzwischen bereit. Die Honorierung der zusätzlichen Leis-
letzten Jahrzehnte ist geprägt von bedenkenlosem Ressourcen-, Energie- und Bodenver- tungen müssen Planende bisher noch individuell vereinbaren. Es sollte aber nur eine Frage
brauch. Das prägt unsere Sehgewohnheiten bis heute. Die Wahl des Materials beeinflusst der Zeit sein, bis auch dieser Punkt geklärt sein wird. Der Fehler im System liegt bis heute
nicht nur die Optik, Haptik und Funktion, sondern entscheidet gleichzeitig auch über die darin, dass neue Materialien meistens günstiger sind als gebrauchte – ganz zu schweigen
Art der Verwendung und die mögliche Verarbeitung. In der Betrachtung des gesamten von dem ungewohnten Aufwand, den dieser neue Ansatz mit sich bringt. Das liegt auch
AIT 10.2024 • 147