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Philipp Nehse                                                 Patrick Gerstein


                                 1979 in Hamburg geboren 2001-2008 Architekturstudium Leibniz Universi-  1976 in Hannover geboren  2000-2003 Architekturstudium Leibniz Uni
                                 tät Hannover 2008-2012 Mitarbeit Angelis+Partner, kbnk architekten 2012   Hannover 2003-2004 ETH Zürich 2006 Diplom Uni Hannover 2006-2010
                                 Gründung Nehse & Gerstein 2009-2020 wiss. MA Uni Hannover     Turkali Architekten 2012 Bürogründung 2010-2018 wiss. MA Uni Hannover






























             Die große Stütze folgt in ihrer Form dem Kraftverlauf. • The shape of the large column follows the force lines.   Klare Architektursprache mit Blick in die Zukunft • Clear architectural language with a view to the future


             von • by Philipp Nehse und Patrick Gerstein, Hannover
             A  ls die Villa im typischen Gründerzeitstil im Jahre 1928 von dem Architekten Fritz   haus in ein Multifunktionsgebäude zu wandeln, das gleichermaßen als Büro-, Veran-
                                                                          staltungs-, Ausstellungs- und Wohngebäude funktioniert. Der Neubau sollte mit einer
                Stutzkeitski errichtet wurde, befand sie sich direkt neben dem Neubau der ehema-
             ligen Fertigung des Schalksmühler Schalterherstellers Albrecht Jung. Diese hatte das auf-  eigenständigen Architektursprache für den Schritt in die Zukunft stehen, gleichzeitig aber
             strebende Unternehmen ein Jahr zuvor bezogen, nachdem die vorläufigen Produktions-  mit dem Bestand interagieren. Im Rahmen der Sanierung wurde die Villa respektvoll für
             stätten in einem Schulgebäude und einem nahe gelegenen Gewächshaus zu klein gewor-  die zukünftige Nutzung umgebaut und größtenteils wieder in ihren historischen Original-
             den waren. Die Villa thronte herrschaftlich auf einem Hügel über der Fertigungsstätte und   zustand zurückversetzt. Veränderungen der letzten Jahrzehnte wurden rückgebaut, und
             diente der Familie Jung über drei Generationen als privater Wohnsitz. Die Produktion und  die ursprüngliche Fensteraufteilung wurde erneut hergestellt. Durch die Hanglage konnte
             Verwaltung wurden Mitte der 1970er-Jahre einige Kilometer entfernt angesiedelt, die Villa   das ehemalige Kellergeschoss zum vollwertigen Stockwerk ausgebaut werden, in dem
             blieb aber noch bis ins Jahr 2015 der Familienwohnsitz. Statt eines Verkaufs entschied  nun erstaunlich weitläufige Arbeitsräume angesiedelt sind. Die Innenarchitektur des Erd-
             sich Harald Jung mit den Gesellschaftern dafür, dem Gebäude zukünftig eine neue und   geschosses – hier sind vor allem neue Empfangs- und Besprechungsräume untergebracht
             moderne Nutzung zu geben, die auch ohne direkte räumliche Nachbarschaft zur Produk-  –  wirkt mit hellen Holzböden, einem abgestimmten Farbkonzept, reduzierten Details und
             tionsstätte eng mit dem Unternehmen verbunden sein sollte. Es entstand die Idee, einen   flächenbündigen Möbeleinbauten betont zeitlos. Im Obergeschoss der Villa befinden sich
             neuen Ort der Kommunikation, des Miteinanders, der Begegnung zu schaffen. Das neue   weitere Büroräume, während im Dachgeschoss zwei Apartments angeordnet sind.
             Gebäudekonzept der Wettbewerbsgewinner Philipp Nehse und Patrick Gerstein aus Han-
             nover stärkt die Identität des Ortes, indem es die bestehende Villa freistellt und um einen  Nahtloser Anschluss des Neubaus an die Villa
             zeitgemäßen, in das Gelände eingebetteten Anbau ergänzt. Es werden neue Blickbezüge
             und Perspektiven generiert und die Gartenanlage aufgewertet. Die Gebäudetechnik des   Eine Unterfangung des Kellergeschosses und das partielle Ergänzen eines neuen Geschos-
             Ensembles setzt auf regenerative Energien, auf einen verantwortungsvollen Umgang mit   ses ermöglichen den nahtlosen Anschluss des Neubaus an die Villa. Die Bodenplatte des
             Ressourcen und – anders als man es bei einem Hersteller für Gebäudetechnik vermuten   Anbaus liegt fünfeinhalb Meter unter dem Erdgeschossniveau der Villa. Der schlichte
             könnte – auf einen auf das Notwendige reduzierten Technikeinsatz.   Neubau, in dem sich die sogenannte Schalterhalle – ein großer Raum zur freien Nutzung –
                                                                          befindet, ist über eine skulpturale, mehrfach gekrümmte Stahltreppe mit dem Altbau
             Der Wettbewerb richtete sich an junge Architekturbüros       verbunden. Der Neubau hebt sich gestalterisch mit Kassettendach, Sichtbeton und Glas
                                                                          deutlich von der Villa ab. Die Raumatmosphäre in der Schalterhalle wird maßgeblich
             Im Jahr 2017 lobte das Unternehmen einen offenen Wettbewerb für Architekturbüros aus,   durch die gestalterische Kraft von Konstruktion und Material bestimmt – die große Stütze
             der sich ausschließlich an junge Büros, deren Gründung nicht länger als fünf Jahre zurück-  in Form einer umgedrehten Pyramide an der Ostseite des Veranstaltungsraums trägt das
             liegen durfte, richtete. Damit gab das Unternehmen nicht nur Newcomern eine Chance,   schwere Betondach und folgt in ihrer Form dem Kraftverlauf. Den Planern von NGA ist
             sondern öffnete sich auch unvoreingenommen für neue Ideen. Eine namhafte Jury, beste-  es gelungen, mit möglichst wenigen Mitteln und einer sehr klaren Architektursprache ein
             hend aus Peter Cachola Schmal vom DAM, den Architektinnen und Architekten Sabine   Gebäudeensemble zu schaffen, das nun ganz im Stil des Unternehmens Jung sowohl die
             Keggenhoff, Jan Kleihues, Elke Reichel, Roger Riewe und Michael Schumacher, ermittelte   Vergangenheit als auch die Zukunft im Blick hat. Dass ein Hersteller wie Jung modernste
             aus 33 Einreichungen den Preisträger NGA Nehse & Gerstein Architekten aus Hannover   Technik verbaut, ist nicht verwunderlich. Natürlich ist die Gebäudetechnik smart und von
             für ihren mutigen und trotzdem behutsamen Umgang mit dem Ort und dem Bestand.  Automatismen unterstützt, natürlich setzt das Beleuchtungskonzept auf Szenarien und
             Der zweite Preis wurde doppelt besetzt und ging an Feyyaz Berber und Timo Steinmann   Sensoren, natürlich sind Störmeldungen der Sanitärhebeanlage lokal und auch aus der
             für einen, wie die Jury titelte, vielschichtigen Ansatz sowie an Studio Yonder, deren Ent-  Ferne per Smartphone empfangbar – um nur einige Beispiele aufzuzählen. Aber keine
             wurf als „raffiniert“ geschätzt wurde. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, das Wohn-  dieser Maßnahmen ist willkürlich oder aus Technikverliebtheit entstanden.

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