Page 31 - AIT1024_Lesprobe
P. 31
Philipp Nehse Patrick Gerstein
1979 in Hamburg geboren 2001-2008 Architekturstudium Leibniz Universi- 1976 in Hannover geboren 2000-2003 Architekturstudium Leibniz Uni
tät Hannover 2008-2012 Mitarbeit Angelis+Partner, kbnk architekten 2012 Hannover 2003-2004 ETH Zürich 2006 Diplom Uni Hannover 2006-2010
Gründung Nehse & Gerstein 2009-2020 wiss. MA Uni Hannover Turkali Architekten 2012 Bürogründung 2010-2018 wiss. MA Uni Hannover
Die große Stütze folgt in ihrer Form dem Kraftverlauf. • The shape of the large column follows the force lines. Klare Architektursprache mit Blick in die Zukunft • Clear architectural language with a view to the future
von • by Philipp Nehse und Patrick Gerstein, Hannover
A ls die Villa im typischen Gründerzeitstil im Jahre 1928 von dem Architekten Fritz haus in ein Multifunktionsgebäude zu wandeln, das gleichermaßen als Büro-, Veran-
staltungs-, Ausstellungs- und Wohngebäude funktioniert. Der Neubau sollte mit einer
Stutzkeitski errichtet wurde, befand sie sich direkt neben dem Neubau der ehema-
ligen Fertigung des Schalksmühler Schalterherstellers Albrecht Jung. Diese hatte das auf- eigenständigen Architektursprache für den Schritt in die Zukunft stehen, gleichzeitig aber
strebende Unternehmen ein Jahr zuvor bezogen, nachdem die vorläufigen Produktions- mit dem Bestand interagieren. Im Rahmen der Sanierung wurde die Villa respektvoll für
stätten in einem Schulgebäude und einem nahe gelegenen Gewächshaus zu klein gewor- die zukünftige Nutzung umgebaut und größtenteils wieder in ihren historischen Original-
den waren. Die Villa thronte herrschaftlich auf einem Hügel über der Fertigungsstätte und zustand zurückversetzt. Veränderungen der letzten Jahrzehnte wurden rückgebaut, und
diente der Familie Jung über drei Generationen als privater Wohnsitz. Die Produktion und die ursprüngliche Fensteraufteilung wurde erneut hergestellt. Durch die Hanglage konnte
Verwaltung wurden Mitte der 1970er-Jahre einige Kilometer entfernt angesiedelt, die Villa das ehemalige Kellergeschoss zum vollwertigen Stockwerk ausgebaut werden, in dem
blieb aber noch bis ins Jahr 2015 der Familienwohnsitz. Statt eines Verkaufs entschied nun erstaunlich weitläufige Arbeitsräume angesiedelt sind. Die Innenarchitektur des Erd-
sich Harald Jung mit den Gesellschaftern dafür, dem Gebäude zukünftig eine neue und geschosses – hier sind vor allem neue Empfangs- und Besprechungsräume untergebracht
moderne Nutzung zu geben, die auch ohne direkte räumliche Nachbarschaft zur Produk- – wirkt mit hellen Holzböden, einem abgestimmten Farbkonzept, reduzierten Details und
tionsstätte eng mit dem Unternehmen verbunden sein sollte. Es entstand die Idee, einen flächenbündigen Möbeleinbauten betont zeitlos. Im Obergeschoss der Villa befinden sich
neuen Ort der Kommunikation, des Miteinanders, der Begegnung zu schaffen. Das neue weitere Büroräume, während im Dachgeschoss zwei Apartments angeordnet sind.
Gebäudekonzept der Wettbewerbsgewinner Philipp Nehse und Patrick Gerstein aus Han-
nover stärkt die Identität des Ortes, indem es die bestehende Villa freistellt und um einen Nahtloser Anschluss des Neubaus an die Villa
zeitgemäßen, in das Gelände eingebetteten Anbau ergänzt. Es werden neue Blickbezüge
und Perspektiven generiert und die Gartenanlage aufgewertet. Die Gebäudetechnik des Eine Unterfangung des Kellergeschosses und das partielle Ergänzen eines neuen Geschos-
Ensembles setzt auf regenerative Energien, auf einen verantwortungsvollen Umgang mit ses ermöglichen den nahtlosen Anschluss des Neubaus an die Villa. Die Bodenplatte des
Ressourcen und – anders als man es bei einem Hersteller für Gebäudetechnik vermuten Anbaus liegt fünfeinhalb Meter unter dem Erdgeschossniveau der Villa. Der schlichte
könnte – auf einen auf das Notwendige reduzierten Technikeinsatz. Neubau, in dem sich die sogenannte Schalterhalle – ein großer Raum zur freien Nutzung –
befindet, ist über eine skulpturale, mehrfach gekrümmte Stahltreppe mit dem Altbau
Der Wettbewerb richtete sich an junge Architekturbüros verbunden. Der Neubau hebt sich gestalterisch mit Kassettendach, Sichtbeton und Glas
deutlich von der Villa ab. Die Raumatmosphäre in der Schalterhalle wird maßgeblich
Im Jahr 2017 lobte das Unternehmen einen offenen Wettbewerb für Architekturbüros aus, durch die gestalterische Kraft von Konstruktion und Material bestimmt – die große Stütze
der sich ausschließlich an junge Büros, deren Gründung nicht länger als fünf Jahre zurück- in Form einer umgedrehten Pyramide an der Ostseite des Veranstaltungsraums trägt das
liegen durfte, richtete. Damit gab das Unternehmen nicht nur Newcomern eine Chance, schwere Betondach und folgt in ihrer Form dem Kraftverlauf. Den Planern von NGA ist
sondern öffnete sich auch unvoreingenommen für neue Ideen. Eine namhafte Jury, beste- es gelungen, mit möglichst wenigen Mitteln und einer sehr klaren Architektursprache ein
hend aus Peter Cachola Schmal vom DAM, den Architektinnen und Architekten Sabine Gebäudeensemble zu schaffen, das nun ganz im Stil des Unternehmens Jung sowohl die
Keggenhoff, Jan Kleihues, Elke Reichel, Roger Riewe und Michael Schumacher, ermittelte Vergangenheit als auch die Zukunft im Blick hat. Dass ein Hersteller wie Jung modernste
aus 33 Einreichungen den Preisträger NGA Nehse & Gerstein Architekten aus Hannover Technik verbaut, ist nicht verwunderlich. Natürlich ist die Gebäudetechnik smart und von
für ihren mutigen und trotzdem behutsamen Umgang mit dem Ort und dem Bestand. Automatismen unterstützt, natürlich setzt das Beleuchtungskonzept auf Szenarien und
Der zweite Preis wurde doppelt besetzt und ging an Feyyaz Berber und Timo Steinmann Sensoren, natürlich sind Störmeldungen der Sanitärhebeanlage lokal und auch aus der
für einen, wie die Jury titelte, vielschichtigen Ansatz sowie an Studio Yonder, deren Ent- Ferne per Smartphone empfangbar – um nur einige Beispiele aufzuzählen. Aber keine
wurf als „raffiniert“ geschätzt wurde. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, das Wohn- dieser Maßnahmen ist willkürlich oder aus Technikverliebtheit entstanden.
AIT 10.2024 • 151