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Prof. Julian Krüger Benjamin Kemper
1975 in Lübeck geboren 1997–2004 Architekturstudium in Stuttgart und 1991 in Bergisch Gladbach geboren 2011–2014 Architekturstudium, TH Köln,
London, Diplomabschluss 2012–2015 Professur (Vertr.), TH Köln 2015–2019 Bachelorabschluss 2015–2018 TU Delft, Niederlande, Masterabschluss seit
Professur, Hochschule Wismar seit 2019 Professur, Hochschule München 2020 Doktorand, ETH Zürich (dbt/ITA) und HS Anhalt (Materiability)
Nachhaltig von der Fassade bis zum (Linoleum-)Boden • Sustainable from the façade to the (linoleum) floor Ansicht Süd: Fertige Unterkonstruktion aus Holzwerkstoffen • Finished substructure made of wood-based materials
Fensterband und vier öffenbare Fenster belichtet ist. Bei genauem Hinsehen lassen die dene Szenarien vorstellbar: Für nicht genehmigungspflichtige kleine Architekturen sind
Holzwände und Fenster im Innenraum und auch die Fassadenelemente ungewöhnliche die Konfiguration und der Selbstbau durch den Endnutzer möglich. Denkbar ist eben-
Fügungen der einzelnen Bauteile erkennen, die auf die Besonderheit der Konstruktion so eine professionelle Planung und Konfiguration durch ArchitektInnen. Das System
und Fertigung hinweisen. Nachhaltigkeit, digitale Fertigung und digitale Prozesse waren gewährleistet eine ununterbrochene Prozesskette – von der Planung über die Fertigung
drei wesentliche Aspekte, die für uns bei der Entwicklung des Hausprototyps im Fokus bis hin zur Montage auf der Baustelle. Die Möglichkeiten und Potenziale digitaler Pla-
standen: Das Haus sollte aus nachwachsenden und recycelten Materialien bestehen, nung und Fabrikation und der daraus resultierenden ununterbrochenen Prozesskette
ausschließlich mit digitalen Werkzeugen gefertigt werden und in Planung, Fertigung lassen sich besonders anschaulich an der parametrisch aufgebauten und gestalteten
und Bau einer weitgehend lückenlosen Prozesskette folgen. Um diese Anforderungen Lamellenfassade aus recyceltem Aluminium aufzeigen. Die horizontal in leichter Bewe-
zu erreichen, haben wir für das Projekt ein Holzstecksystem aus 24 Millimeter star- gung verlaufenden Lamellen umhüllen das gesamte Gebäude und reagieren auf seine
ken Sperrholzplatten entwickelt, das innerhalb kürzester Zeit ohne Werkzeug und ohne Grundgeometrie. Die computergenerierten Anstellwinkel in der Holzunterkonstruktion
zusätzliche Verbindungsmittel wie Schrauben oder Nägel aufgebaut werden kann. Alle lassen die Bleche in den Bereichen von Öffnungen dicht an dem Haus anliegen; in
Verbindungen sind gesteckt. Grundlage der Holzkonstruktion ist ein Knotenpunkt, der den geschlossenen Bereichen fächert sich die Fassade leicht auf und trägt so zur Hin-
– ähnlich einem Steckverschluss – verbunden und auch wieder gelöst werden kann, so terlüftung der Fassade bei. Die Elemente sind lasergeschnitten und beinhalten alle
dass ein sortenreiner Rückbau oder eine Erweiterung der Struktur möglich sind. Befestigungsdetails. Spezielle Perforationen und Ausschnitte im Blech ermöglichen
das Herausfalten von Montagelaschen. Diese werden auf die Fassadenunterkonstruk-
Werkzeugfreies Steckprinzip und Konfiguration per App tion aufgesteckt und mit Holzdübeln gesichert. Die einzelnen Aluminiumbauteile sind
untereinander durch ein weiteres integriertes Steckdetail, ähnlich einer Gürtelschnalle,
Die Holzrippenkonstruktion wird innen mit Sperrholz und außen mit einer diffusionsof- passgenau mithilfe von Reibung und Biegung fest verbunden. Auch die Fenster und die
fenen Holzfaserplatte durch Stecken beplankt, verriegelt und so zusätzlich ausgesteift. Tür sind digital und individuell gefertigt. Die doppelt verglasten Fenster und die Ein-
Auch die Unterkonstruktion der Fassade wird per Hand aufgesteckt und gesichert. Der gangstür bestehen aus 24 Millimeter CNC-gefrästen Multiplexplatten und werden, dem
entstehende Zwischenraum ist mit natürlicher Holzfaser gedämmt. Durch die Verwen- Konstruktionsprinzip folgend, zusammengesteckt und mit Holzdübeln fixiert.
dung digitaler Werkzeuge (fünfachsige CNC-Fräse) wird die komplexe Materialbearbei-
tung, die das Steckprinzip für die Konstruktion des Hauses ermöglicht, kostengünstig Integration digitaler Entwicklungs- und Fertigungsabläufe
realisierbar. Des Weiteren erlaubt das im Holzbau historisch fest verankerte Steckprin-
zip einen sortenreinen Rückbau des Hauses und die Wiederverwendung der Materiali- Durch Preisnachlässe, Materialsponsoring und den Aufbau durch Architekturstudierende
en. Das Gebäude steht auf sechs Drehfundamenten, die eine Gründung ohne die Ver- konnten wir den Prototyp für 33.000 Euro realisieren. Die Wahl von Plattenmaterial für
wendung von Beton möglich machen und rückstandslos entfernt und wiederverwendet die Holzkonstruktion sowie für die Fassade, Fenster und Türen ermöglicht in einem
werden können. Das Bausystem des Digital House ist für eine parametrische Planung zukünftigen Szenario eine vollautomatisierte und somit kostengünstige Fertigung der
optimiert, sodass es möglich wird, ein Haus per App zu konfigurieren und zu gestalten. einzelnen Bauteile, die durch CNC-Fräsen und Lasermaschinen ausgeschnitten werden
Kubatur, Grundriss, Dachform, Öffnungen und Fassade können individuell entworfen und auf der Baustelle nur durch Stecken verbunden werden. Die Entwicklung und Rea-
und so an verschiedene Situationen, Funktionen und Programme angepasst werden. lisierung war für uns ein sehr inspirierender und erkenntnisreicher Prozess, der uns
Parallel zur Konfiguration lässt sich der Fertigungs- und Transportpreis der Bauteile aufzeigte, wie integrative Ansätze in den Entwicklungs- und Fertigungsphasen von Archi-
berechnen. Die so entstehenden computergenerierten Daten bilden die Basis für die tektur zunehmend die Grenzen zwischen den traditionellen Bereichen von Entwurfspla-
digitale Produktion aller notwendigen Bauelemente. Für die Anwendung sind verschie- nung, Detailplanung, Fertigung und Bau verschwimmen lassen. In dieser Entwicklung
AIT 7/8.2024 • 119