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Foto: Familie Kiefner/Elisabeth und Jörg Kiefner              Elisabeth Kiefner




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                                                                    Marohn Architekten, Stuttgart; erste selbstständige Planungen 1954 Heirat mit Jörg Kiefner 1957/59/63 Geburten der



       1951: Baustelle am Botnanger Sattel                          Töchter 1957 Salamanderhaus Freiburg 1968 Wettbewerb Literaturarchiv Marbach 1973 Einweihung Literaturarchiv
       Elisabeth Kiefner aus Stuttgart


       Elisabeth Kiefner, auch liebevoll „Lissi“ genannt, fasziniert durch ihren Esprit, ihre  Holzhäuser der Kochenhofsiedlung in Stuttgart, die unter Schmitthenners Leitung in nur
       Lebendigkeit, ihr Wissen, ihre Erfahrung, ihre Ausstrahlung, ihren Stil … kaum zu  wenigen Monaten 1933 erstellt wurden.
       glauben, dass diese Stuttgarter Architektin 95 Jahre alt ist. Man fragt sich, worin das
       Geheimnis dieser erfolgreichen Berufs- und Familienbiographie liegt, die in dieser  Kannst Du Dich an den auslösenden Moment erinnern, an dem sich Deine Leiden-
       Form selbst heute nur wenigen Architektinnen gelingt. Vor 75 Jahren hat sie sich als  schaft für Architektur entfachte?
       eine von acht Frauen unter 292 Männern für Architektur an der Universität Stuttgart  Ja, das war die Begegnung mit Prof. Adolf Schneck, dem Rektor der Staatlichen Kunst-
       eingeschrieben. Das entspricht einem Anteil von 2,7 Prozent, 2016 waren 58 Pro-  akademie am Weißenhof. Technische Hochschule und Akademie waren ja in dieser
       zent der Studierenden Frauen. Das für die Einschreibung notwendige Baupraktikum  Phase im gleichen Gebäude untergebracht. Er ermutigte mich, ich solle durchhalten,
       wurde zwischen Trümmern absolviert – Ziegelsteine aussortieren und säubern.   das „Entwerfen“ würde ja jetzt erst im Hauptstudium kommen. Im Übrigen hätte er eine
                                                                    Tochter, der es gleich erging und sie sei jetzt Architektin. Ich habe dann bei ihm das
       Lissi, wo und wie hast Du Deine Kindheit und Jugend verbracht?   Wahlfach „Innenarchitektur“ belegt und das Feuer war entfacht.
       Als ich zehn Jahre alt war, also 1935, wurde mein Vater als Bundesbahnbeamter von
       Stuttgart nach Essen strafversetzt,  er weigerte sich bis zum Ende, in die Partei einzutre-  Was waren die nächsten Meilensteine auf Deinem Weg?
       ten. 1943 wurde Essen schwer  bombardiert, mein letztes halbes Schuljahr verbrachte  1950 übertrugen meine Eltern mir die Planung für das Elternhaus in Stuttgart. Ich war
       ich durch die Kinderlandverschickung bei Tábor in Böhmen, dort machte ich Abitur.  noch mitten im Studium, aber für mich war klar, dass ich das mache und ein Jahr pau-
       Nach einem halben Jahr Arbeitsdienst auf dem Feld folgte der Dienst in einem Lazarett  siere. Das war auch die Zeit, als Jörg Kiefner (1922-2007)  und ich ein Paar wurden. Wir
       bei Prag. Auf der Lungenstation versorgte ich ohne jegliche Vorkenntnisse Schwerstver-  kannten uns schon seit dem ersten Semester und waren befreundet, etwas später hat
       letzte. Im März 1945 nahten die Russen und wir wurden „entlassen“. Die Familie sam-  es gefunkt … Jörg hat dann die Bauleitung übernommen, er hatte zuvor sein Zwischen-
       melte sich tröpfchenweise wieder im Umland von Stuttgart, in Essen waren wir „ausge-  praktikum bei Döcker gemacht und hatte Praxiserfahrung.
       bombt"..
                                                                    Wie ist der Entwurf zu diesem Haus entstanden? Gab es „Entwurfsleitlinien“, denen
       Und wie kamst Du dann zur Architektur? Wie hast Du Dein Studium empfunden?   Du Dich verpflichtet fühltest?
       Wurden Studentinnen anders behandelt als Studenten?          Die Bauantragspläne hatten ein Satteldach vorgesehen, als wir dann auf der obersten
       Eigentlich eine ganz pragmatische, nicht sehr leidenschaftliche Entscheidung, wir hatten  Geschossplatte standen und die Aussicht erlebten, entschieden wir uns kurzerhand für
       keine Architekten im näheren familiären Umkreis, ich hatte keine konkrete Vorstellung  ein Pultdach. Das sorgte für etwas Unruhe auf dem Baurechtsamt und der Bau wurde
       davon, was mich erwartet. Meine Kunstlehrerin in der Schule in Böhmen empfahl mir  vorerst eingestellt. Mein Vater half uns glücklicherweise vermittelnd aus der Bredouille.
       Architektur, ich war gut in Mathe und konnte „gut zeichnen“.

       Aus heutiger Sicht eine sehr fortschrittliche Berufsberatung - war doch zu dieser Zeit  Literaturarchiv Marbach 1973
       der Architektenberuf noch stärker den augenscheinlich männlichen Attributen, wie
       Führungskraft und Durchsetzungsvermögen zugeschrieben. Wie hast Du es im Stu-
       dium empfunden? Wurden Studentinnen anders behandelt als Studenten?
       Nach meinem Empfinden wurde mit uns gleich umgegangen, es gab keine Unter-
       schiede, vielleicht hatten manche Studentinnen einen Vorteil, wenn sie dem Professor
       gefielen …

       Wie kann man sich ein Architekturstudium direkt nach dem Krieg vorstellen?
       Es gab keine Unterrichtsmaterialien, Bücher, Zeitschriften … es wurde abgezeichnet, ab-
       gezeichnet, abgezeichnet … meist stand man vor den zu kopierenden Plänen in dritter
       oder vierter Reihe, alles doch sehr mühselig und etwas stupide, eigentlich hatte ich mir
       etwas anderes vorgestellt.

       Gab es für Dich bedeutende Lehrmeister?
       Zu diesem Zeitpunkt noch nicht, die Lehrenden waren meist ehemalige Assistenten von                                       Foto: Hendrik Bohle
       Paul Schmitthenner. Unsere ersten Entwürfe sahen letztlich aus wie die spitzgiebeligen


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